Mutproben
den Bescheid der Schulbehörde. Er kannte uns natürlich gut, meine Mutter hielt mit ihm immer einen Plausch an der Tür. An diesem Tag lächelte er meine Mutter wissend an und sagte zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, Ole hätte es geschafft. Meine Mutter war verdutzt und fragte ihn, woher er denn diese Gewissheit nehme. Woraufhin der Briefträger ihr erklärte, dass zu dieser Jahreszeit immer dicke und dünne Umschläge aus der Schulbehörde versandt würden. Bei den dicken Umschlägen kämen alle Unterlagen zurück, und folglich habe man nicht bestanden. Die dünnen Briefe enthielten nur eine kurze Benachrichtigung, dass man es auf das Gymnasium geschafft hätte. Er wisse ja, wer im entsprechenden Alter sei und könne anhand der Umschläge erkennen, wer wie abgeschnitten habe.
Ich hatte also bestanden und mir war ein großer Stein vom Herzen gefallen, als ich die Nachricht bekam. Viele Jahre später erzählte mir ein Grundschullehrer von damals jedoch im Vertrauen, dass meine Leistungen eigentlich nicht ausreichend gewesen seien. Die Lehrerschaft hatte sich aber zu meinen Gunsten entschieden, weil viele der Lehrer damals meinten, den Sohn des Bezirksbürgermeisters könne man nicht einfach durchfallen lassen. Aus eigener Erfahrung weiß
ich seither, wie sehr doch die Herkunft über den Bildungsweg entscheiden kann. Ich durfte Karriere machen, während anderen Mitschülern, die vielleicht ebenso gut oder besser abgeschnitten hatten als ich, dieser Weg verwehrt blieb.
Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sich mein Anspruch an die Bildungspolitik, für Chancengerechtigkeit zu sorgen. Das war auch das Bestreben der Schulreform in Hamburg. Unser Ziel war, möglichst allen Kindern dieselbe Bildungsbasis zu schaffen. Die nicht so privilegierten Kinder sollten mit den von Haus aus gut vorgebildeten und leistungsstarken Kindern länger zusammen lernen können, um das Fehlen entsprechender Voraussetzungen auszugleichen. Diese Verlängerung des gemeinsamen Lernens von heute vier auf dann sechs Jahre in der Primarschule sollte zumindest der Versuch sein, auf der Herkunft beruhende Defizite zu reduzieren.
Wichtig ist hierbei die deutliche Differenzierung zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit: Eine Chancengleichheit kann es nicht geben und ist auch nicht erstrebenswert, wenngleich Sozialisten gerade in der Schul- und Bildungspolitik gerne danach rufen. Dem zugrunde liegt ein alter Streit über die Priorität der Grundwerte Freiheit und Gleichheit. Es ist ein konservatives und ein bürgerliches Credo, im Zweifel die Freiheit über die Gleichheit zu stellen. Die Sozialisten hingegen fordern im Zweifel Gleichheit vor Freiheit. Aber unterschiedliche Menschen haben immer unterschiedliche Möglichkeiten und gelangen so automatisch zu unterschiedlichen Lebensergebnissen. Wenn die Freiheit das
höchste Gut ist, muss man Ungleichheiten akzeptieren. Doch wie will ich unterschiedliche Lebensergebnisse in Einkommen, Karriere, Beruf rechtfertigen, wenn nicht zumindest jeder die Chance gehabt hätte, aus seinem Leben viel zu machen? Was ein Mensch aus seinen Möglichkeiten macht, ist Ausdruck seiner Individualität und seiner persönlichen freien Entscheidung. Freiheit aber würde zur Phrase, wenn deren Ausübung nicht auf Chancengerechtigkeit fußte.
Es gibt natürlich ungleiche Chancen auf Erfolg, die vom Elternhaus gesetzt werden. Das kann die Politik nicht vollständig korrigieren. Aber wir müssen gewisse Defizite, die durch Schichtzugehörigkeit entstehen, ausgleichen. Sonst wird jeder, der von zu Hause aus gut ausgestattet ist, die Freiheit nutzen können, während die anderen, denen dies nicht möglich ist, auf der Strecke bleiben. Das ist ungerecht und bringt die Gesellschaft in eine moralische Schieflage.
Für die CDU kam der Vorstoß mit der Schulreform einer Revolution gleich. Dort geht man bis heute davon aus, dass vier Jahre ausreichen, um festzustellen, ob ein Kind für das Gymnasium geeignet ist oder nicht. Das jedoch ist kein zeitgemäßes Denken, sondern basiert auf einer veralteten Auffassung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: Das Gymnasium, das die Kinder auf eine akademische Ausbildung vorbereitet, die Realschule, die auf das Handwerkliche und auf die Fachhochschulen ausgerichtet ist, und die Hauptschule als Basis einer klassischen handwerklichen Lehre. Das Problem ist nur, dass dieses Bild nicht mehr stimmt.
Der Handwerker braucht heute Fähigkeiten, die sich früher vermutlich nur
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