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Mutproben

Mutproben

Titel: Mutproben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole von Beust
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Akademiker aneignen mussten. Zudem trifft es heute nicht mehr zu, dass man einen Beruf erlernt und diesen dann bis ans Lebensende ausübt. Heute ist eine viel größere Flexibilität gefragt. In der Schule erhält unser Nachwuchs daher eine Ausbildung, die dazu befähigt, sich selbst weiterzubilden. Dies gelingt umso besser, desto mehr Basiswissen die Kinder ansammeln können.
    Dem steht auch nicht das Argument entgegen, dass man besonders begabten Menschen den Weg nach oben nicht durch leistungsschwächere verstellen sollte. Ein Einwand, der bereits in den Zwanzigerjahren angeführt wurde, als die Sozialdemokraten das gemeinsame Lernen in der Grundschule auf vier Jahre festlegen wollten. Schon damals schrien die Konservativen auf und forderten, dass die Trennung gleich am Anfang stattfinden solle. Mittlerweile wird die vierjährige Primarschule von allen Seiten akzeptiert, weil zahlreiche Studien belegen, dass ein längeres gemeinsames Lernen große Vorteile für beide Seiten hat.

    Bis auf Deutschland und einige österreichische Bundesländer trennt kein OECD-Land die Schüler schon nach vier Jahren. Wenige trennen nach fünf Jahren, die meisten Länder nach sechs, einige nach sieben, und ein paar Länder trennen sogar erst nach acht oder neun Jahren. Die meisten praktizieren das bereits seit vielen Jahren und erzielen so erheblich bessere PISA-Ergebnisse. Wäre das deutsche System so erfolgreich, würde ich sagen: Gut, Gerechtigkeit hin oder her, es ist
nun einmal erfolgreich. Nur ist es das nicht. Und wenn einige Politiker sich nun hinstellen und behaupten, dass unser bisheriges Schulsystem weltweit anerkannt sei, erfolgreich und verlässlich, dann ist das schlicht nicht wahr. Das ist dann eine Klientelpolitik, die nicht im Sinne der ganzen Gesellschaft sein kann, sondern im Widerspruch steht mit einer gerechten, integrativen Denkweise.

    Klaus von Dohnanyi, einer meiner Vorgänger als Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg und ein von mir sehr geschätzter Kollege, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Aufgabe, Chancengerechtigkeit zu garantieren, schon in der Kita beginnen muss. Wenn hier Eltern überfordert, desinteressiert oder materiell nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern, stehen wir am Anfang eines Teufelskreises. Ich teile diese Auffassung, zumal sich sprachliche Defizite gerade in den jüngsten Lebensjahren am besten ausgleichen lassen. Deshalb haben wir in den letzten Jahren in Hamburg einen hohen Anteil an Krippen etabliert, der mit fast einem Drittel von angebotenen Plätzen pro Jahrgang deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Bundesländer liegt.
    Zunächst hatten die Sozialdemokraten damit begonnen, das Modell »Krippen plus Tagesmutter« auszubauen, wir haben es schließlich fortgeführt. Wenn man bedenkt, dass die ersten zwei Wochen im Leben wichtiger sind als die ersten zwei Monate, die ersten zwei Monate wichtiger als die ersten zwei Jahre und die ersten zwei Jahre noch einmal wichtiger
als die ersten zwanzig Jahre, dann ist es nur einleuchtend, dass der Schwerpunkt in der Bildungspolitik in den Anfängen liegen muss. Je früher Kinder gefördert werden, sodass sie sprachliche Fertigkeiten ausbauen können, je früher sie zur Wissbegierde animiert werden, je früher sie sich soziales Verhalten aneignen, desto mehr verinnerlichen sie die gewonnenen Kompetenzen.
    Ich halte es daher für einen Trugschluss, dass man die Kinder möglichst lange ausschließlich bei ihren Eltern lassen sollte. Die meisten Kinder sind froh, wenn sie unter Gleichaltrigen spielen und sich mit anderen Kindern austauschen können. Wenn das Kind täglich für vier Stunden in einer Kita ist, bleiben noch immer viele Stunden mit der eigenen Familie. Ich bezweifle, dass aufgrund dieser vier Stunden am Vormittag eine Form der Traumatisierung oder der Abnabelung von der eigenen Mutter stattfindet.

    Aus diesen Gründen sollte der Besuch einer Kindertagesstätte meiner Meinung nach verpflichtend sein, was radikal klingen mag, es aber tatsächlich nicht ist. Denn schon heute melden über 90% der Eltern ihre Kinder in einer Kita an, zumindest in Großstädten. Auch wenn wir weiterhin mehr Geld für die Einrichtung von genügend Plätzen benötigen, halte ich diesen Schritt für notwendig.
    Allerdings muss ich einräumen, dass die Finanzierung nicht allein dem Staat obliegen darf, auch die Eltern müssen etwas beisteuern. Tatsache ist: Die meisten Dinge, die nichts kosten, haben auch keinen

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