Mutter des Monats
davor gefürchtet, Mutter eines Kleinkindes zu werden. So war es immer weitergegangen. Warum hatte ihr das keiner vorher gesagt? Im Grunde bestand das Elterndasein doch nur daraus, mit schmerzlichem Bedauern dem viel zu schnell Vergehenden nachzutrauern, wenn man nicht gerade Panik vor dem hatte, was einem noch bevorstand. Die Gegenwart selbst war ziemlich schwer zu fassen. Sie konnte es kaum ertragen, Eltern mit ihren schlaksigen und todunglücklichen Teenagern samstags beim Einkaufen zu beobachten. Es hatte etwas Pietätloses, ihnen beim gemeinsamen Trauern zuzusehen. Was Erwachsene mit erwachsenen Kindern betraf – unvorstellbar, wie man das aushalten konnte. Sie hatte sich angewöhnt, nicht zuzuhören, wenn die Kinder am Ende des Schuljahres zum Abschied Kirchenlieder sangen. Ganz besonders schlimm fand sie »Komm, lass los«. Bei dem Text bekam sie eine Gänsehaut. Wenn es nach ihr ginge, wären solche Lieder nicht erlaubt. Viel zu drastisch und grob. Verletzend. Darüber würde sie noch mal ein Wörtchen mit Mr Orchard reden. Das sollte man verbieten.
Maisie hatte Gott sei Dank noch ein Jahr vor sich. Wozu sollte sie sich also damit quälen, bei diesen mitleiderregenden Leuten rumzustehen, die bereits dem Ende entgegensahen? Genauso war es ihr letzten Sommer im Tunesienurlaub gegangen. Sie hatte die erste Hälfte des Urlaubs bereits hinter sich gehabt, war nur kurz vom Pool an die Rezeption gegangen, um Plätze für das Galadinner zu reservieren, und prompt in den Abreisestress der anderen Feriengäste geraten. Da hatten sie gestanden, diese Leute, die sie zuvor nur in Badekleidung, Shorts und Spaghettitops gesehen hatte, im klimatisierten Elend, mit Jeans, Socken, das Hemd in der Hose, hatten sie resigniert auf den Bus gewartet. Heather hatte prompt die Galatickets vergessen und war so schnell sie konnte wieder an den Pool geeilt. Der bloße Anblick von Koffern auf Rollwagen an der Rezeption hatte bei ihr das unbändige Verlangen ausgelöst, sich in der Sonne zu aalen und im Wasser herumzuplanschen, solange es noch ging.
Dasselbe würde sie jetzt tun – sich in der Sonne auf Melissas Steinboden tummeln. Die wunderbaren Kunstwerke an den Wänden bestaunen. Den Blick auf den hübschen hügeligen Garten genießen. Vielleicht nach oben schleichen und sich dort ein wenig umsehen … Ha, da kamen die anderen.
»Hallo Leute!« Heather merkte, dass ihre Stimme einen Tick zu laut war. »Ist das hier nicht voll mega?«
Georgina stellte sich an Heathers Seite und legte ihr den Arm auf die Schulter. »Heather?«
»Bitte!« Rachel stellte sich auf die andere Seite, und gemeinsam bugsierten sie Heather in eine Ecke.
»Wir sind alle sehr froh …«
»… dass du von der dunklen Seite zu uns übergelaufen bist.«
»Wir nehmen dich mit offenen Armen …«
»… in unserem Kreis auf.«
»Aber jetzt …«
»… ist es an der Zeit …«
»… nicht mehr so zu reden …«
»… wie eine totale …«
»… Dumpfbacke.«
Georgina stahl sich auf der Suche nach einem sonnigen Plätzchen aus der Küche, um ein Nickerchen zu halten. Es blieben ihr noch genau 37 Minuten, bis sie Hamish abholen musste, und die wollte sie voll ausnutzen. Um Melissas geschmackvolles Kuchenbüfett und den einladenden Kaffeestand hatte sich eine dichte, laute Menschentraube gebildet. Diese nervigen Streber hatten sich überall breitgemacht und stolperten vor lauter Hilfsbereitschaft über die eigenen Füße. Sie musste dringend hier weg, wenn sie nicht totgetrampelt werden wollte.
Die allgemeine Heiterkeit dieser Veranstaltung ging ihr langsam mächtig auf den Senkel.
Sie schlenderte in das warme, friedliche Wohnzimmer mit pastellfarbenen Wänden und blickte hinaus auf die ruhige Mead Avenue. Ein einziges Auto kam den Hügel hinab. Kurz vor Melissas Haus verlangsamte es die Fahrt, fuhr dann wieder schneller, wendete und kehrte zurück. Vielleicht wurden sie überwacht. Womöglich war Melissa eine Drogendealerin oder Terroristin oder eine russische Agentin. Das wäre doch lustig, wenn sich herausstellte, dass die ohnehin viel zu nette Melissa neben ihrem langweiligen perfekten Leben noch was ganz anderes trieb.
Georgina wandte sich ab und ließ sich in die Tiefen des gelb karierten Sofas fallen, öffnete das Schleusentor und ließ die so mühsam zurückgehaltene Müdigkeit durch ihren Körper fließen. Es wurde mit jedem Mal schlimmer. Klar, sie würde sich schon daran gewöhnen, damit umgehen lernen und weitermachen, aber dieses Mal, das
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