Mutter des Monats
mit geübter Leichtigkeit auf der Hüfte, Henry saß auf Sophies Rücken, George und Lucy starrten wie gebannt in die Tiefen desselben Sportbeutels. Die Martins fielen immer auf, allein schon, weil sie so viele waren. Aber auch, weil sie stets im engen Kontakt zueinander standen, immer beieinander waren, wie ein zusammenhängendes Gebilde in einem Meer von Punkten.
Rachel blickte zum Schultor und hatte schon einen Kloß im Hals, bevor sie überhaupt wusste, warum: Chris und Poppy, auf dem Weg zum Auto. Sie war noch nie in der Schule gewesen, wenn Chris die Kinder abholte – wozu auch? Wenn er kam, war sie grundsätzlich woanders, deswegen faszinierte sie der ungewohnte Anblick umso mehr. Es war, als beobachtete man seine Organe bei der Arbeit, als könnte man plötzlich dabei zusehen, wie das eigene Fleisch und Blut seinen täglichen Verrichtungen nachging. Einen Moment lang starrte sie wie gebannt auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte: Poppy hielt Chris an der Hand, Chris trug Poppys Ranzen, Poppys Pferdeschwanz wippte auf und ab, während sie munter vor sich hinplapperte. Auf einmal bekam alles einen völlig neuen Zusammenhang: Was sie hier sah, war eine vollkommene Beziehung. Nicht irgendeine, sondern eine natürliche, lebendige, funktionierende, gesunde Beziehung. Dieser Befund, so logisch er auch schien, traf sie völlig unvorbereitet. Das widersprach allen Erwartungen. Ein kleines Wunder. Trotz der Wunden, die die letzten Monate geschlagen hatten, schienen alle noch wunderbar zu funktionieren.
Sie blieb im Türrahmen stehen, bis Chris ins Auto gestiegen war, um Josh abzuholen. Eine Unterabteilung der Familie – ja, genau, ihrer Familie – fuhr zu einem Familien-Unterabteilungsessen. Zur Sicherheit hielt sie den Fischauflauf dichter an die Brust, beugte sich zum Schutz vor dem Regen etwas vor und lief den Hügel hinab.
Morgendliche Kaffeerunde bei Melissa
8.50 Uhr: Vor Schulbeginn
Zum ersten Mal seit Monaten schien in St. Ambrose die Sonne. Der Frühling hatte beschlossen, sich ungewöhnlich früh einzustellen, sodass innerhalb einer Woche plötzlich überall Blätter sprossen, als hätte die Natur ihren teuersten Tuschkasten herausgeholt und alles angemalt.
Rachel küsste Poppy auf den Kopf und sah ihr nach, wie sie durchs Schultor davonsprang. Auch sie hatte Farbe bekommen. Gestern hatten sie zum ersten Mal im Park Tennis gespielt, und jetzt trug sie die ersten Sommersprossen im Gesicht. Außerdem lachte sie viel mehr. Ein Jahr war vergangen, und was sich einmal traurig und unnormal angefühlt hatte, war fast zum Alltag geworden. Rachel atmete die frische, grüne Luft tief ein. Vielleicht wäre ja bald alles wieder gut.
»Was treiben sie denn jetzt schon wieder?« Georgina stand, Hamish auf dem Arm, neben ihr und machte ein finsteres Gesicht.
Jede Teilnehmerin der Sportgruppe hielt zwei lange Stöcke in der Hand. Gemeinsam marschierten sie zügig in Richtung Hügel. Colette und Jasmine lagen in Führung, Heather weit zurück.
»Also gut. Ich bin keine Expertin. Vielleicht habe ich ja was falsch verstanden«, sagte Georgina laut, »aber wollen die hier Ski fahren?«
Das Grüppchen marschierte munter weiter. »Beeilung!«, rief Colette schnaufend nach hinten. »Verdammte Wachsbehandlung um zehn. Bikinizone!« Heather, die offenbar Probleme mit den Stöcken hatte, konnte das Tempo nicht halten.
»Ist das normal? Ski fahren?« Georginas Stimme war sehr laut geworden, sie brüllte fast. »Auf einem Parkplatz? Im März?«
Colette hielt weder an noch drehte sie sich um, aber Heather blieb stehen und fummelte weiter mit hochrotem Kopf an ihrer Schlaufe herum.
»Wir machen Nordic Walking, Georgina.« Rachel hatte Heather selten so verärgert erlebt. »Das soll richtig gesund sein. Clover? Wartest du bitte auf mich?«
»Ach so!«, rief Georgina so laut, dass sie jeder hören konnte. »Nordic. Ich verstehe! Darum seid ihr alle so blond. Nordic, ha!«, brüllte sie Rachel zu. »Die können aber gut Englisch, hm?«
»Meine Güte!« Heathers Schlaufe hatte sich mittlerweile total verknotet, und ihr standen die Tränen in den Augen. »Sie gehen ohne mich weiter!«
»Tu virst sie nicht mehr einhollä«, sagte Georgina mit übertrieben skandinavischem Akzent. »Sie zind schon auf der Pistä.«
Wütend warf Heather die Stöcke auf den Boden und verschränkte die Arme wie ein trotziges Kind, was Georgina und Rachel zum Lachen brachte.
»Das ist nicht fair«, maulte Heather zu allem Überfluss.
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