Mutter des Monats
Milo …« Milo schüttelte beim Gehen die linke Faust, wie er es immer tat, wenn er sich aufregte. Zuhause versuchte sie, es ihm auf sanfte, vorsichtige Weise abzugewöhnen, und sie hatten diese überspannte Kinderfrau gefeuert, aber manchmal erlitt er einen Rückfall. Nicht oft. »Milo ist eher besonders talentiert und kreativ.«
»Hochbegabt heißt das«, korrigierte Scarlett.
»Ist doch egal«, sagte Deborah, aber nur zu sich selbst.
»Schreibt er deshalb rückwärts?«
»Das heißt Spiegelschrift«, erwiderte Deborah mit Nachdruck. Wie oft hatte sie dieses Wort in den letzten zwei Jahren schon benutzt? Spiegelschrift, Spiegelschrift. An manchen Tagen sagte sie nichts anderes. »Die Spiegelschrift ist ein Zeichen überdurchschnittlicher Intelligenz.« Sie verstand einfach nicht, warum sie das immer wieder erklären musste. Hatte hier noch nie jemand von Leonardo da Vinci gehört?
Die Kinder waren nun am Auto angekommen.
»Ach so«, sagte Scarlett.
Sie öffneten die hinteren Türen, während Scarlett vorn ausstieg.
»Wie clever«, fügte sie hinzu.
Scarlett musterte Milo, als wäre er ein Museumsstück und sie die Expertin, die es ausgegraben hatte.
»Ich liebe Spiegelschrift.«
Mit diesen Worten flitzte sie davon.
»Mami?« Martha nahm Milos Hand, und gemeinsam beobachteten sie, wie die dürre Scarlett auf dem Schulhof verschwand.
»Was wollte die hier?«
Mittagessen bei Heather
8.40 Uhr: Vor Schulbeginn
»Aber es ist doch so«, wiederholte Heather, »wenn man es von allen Seiten betrachtet, führen alle Wege nach … ähm … Dingsbums: Bea hat mich garantiert nicht zufällig gebeten, das Mittagessen ausgerechnet an ihrem vierzigsten Geburtstag zu veranstalten. Sie wollte sicher, dass ich zum Vierzigsten für sie koche.«
»Hmmm«, murmelte Rachel zum wiederholten Male. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft Heather sich schon über dieses faszinierende Thema ausgelassen hatte. Damit sie nicht völlig durchdrehte, hatte sie sich schon auf halbem Weg den Hügel hinauf mental verabschiedet.
Rachel hatte diese besondere geistige Fähigkeit schon als Teenager erworben und nichts lieber getan, als am Küchentisch zu sitzen und zu malen, während ihre Mutter nichts lieber getan hatte, als unablässig zu quasseln. Doch jetzt, nachdem sie ein ganzes Jahr lang viel zu viel Zeit mit Heather verbracht hatte – die offiziell als der Welt größte Quasselstrippe galt –, hatte sie das System perfektioniert. Es war eigentlich leicht: Sie stellte sich ihr Gehirn einfach wie ein Gebäude mit mehreren Zimmern vor, die alle ihre Bestimmung und eine eigene, zuverlässige Alarmanlage besaßen, sodass Unbefugte aus einem Lebensbereich die Gedankenzimmer des anderen nicht betreten konnten. Nur ganz besondere Menschen wie Georgina beispielsweise hatten Zutritt zu fast allen Bereichen. Chris war auch mal so ein Mensch gewesen und Bea, aber denen hatte Rachel kürzlich die Genehmigung entzogen. Die Gründe lagen auf der Hand. Natürlich durften die Kinder jederzeit unangekündigt in alle Zimmer stürmen – sogar in ihr Arbeitszimmer, in das dank seiner verstärkten Schallschutzwände sonst niemand reinkam. Die meisten kamen ohnehin nur bis zum Vorzimmer. Dort war es ziemlich voll. In Rachels mentalem Vorzimmer ließ sie zum Beispiel ihre Mutter gern warten. Sie konnte sich richtig vorstellen, wie ihre Mutter im Vorzimmer, irgendwo in einem vorderen Hirnlappen, herumstand, »Hallooo!« rief, Anweisungen erteilte, Meinungen kundtat und sich dabei fragte, ob Rachel ihr überhaupt zuhörte.
Dort hielt sich auch Heather an diesem Morgen auf. Sie stand in Rachels Vorzimmer und quasselte über Beas bekloppten Geburtstag.
»Das war ein versteckter Hinweis. So muss es sein. Damit wollte sie sagen: Bitte, bitte könntest du meine Geburtstagsfeier ausrichten? Also habe ich einen unglaublichen Kuchen gebacken. Und diese Luftballons mit einer Vierzig drauf bestellt.«
»Hmmm.«
Rachel konnte währenddessen in Ruhe bei sich sein. Sich in ihren Privatgemächern aufhalten. Bei warmem Kaminfeuer und sanftem Licht in Ruhe und Frieden immer wieder über die Ereignisse des vergangenen Abends nachdenken.
Wie viele der besten Ereignisse in ihrem Leben hatte auch der gestrige Abend zunächst katastrophal begonnen. Natürlich war ihr den ganzen Tag schlecht gewesen – vor lauter Aufregung, Scham und morbider Selbstkasteiung, weil sie so eine tragische Figur abgab. Sie war nicht nur die älteste Frau der Weltgeschichte, die je ein
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