Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
zusehen? Wird er dabei weinen?
»Du hast recht. Ich schaffe das nicht«, sage ich. »Obwohl es eigentlich die einzige Lösung wäre.«
»Und wer sollte dann hier wohnen?«, gibt Jens zu bedenken.
»Was weiß ich denn? Soll sich doch mal jemand anderes fertigmachen lassen«, antworte ich. Mehr fällt mir nicht ein. Auch Jens hat keine Idee, wie es weitergehen soll.
»Ich kann schon gar nicht mehr in die Wohnung meiner Eltern gehen«, sage ich. »Es erdrückt mich alles dort. Die Stimmung, das Leiden, die Trostlosigkeit und die Wut meines Vaters!«
Letzteres ist fast noch schlimmer zu ertragen als die leeren Augen meiner Mutter.
»Ich könnte das doch übernehmen? Mir macht das nichts aus«, schlägt er vor.
Hinter uns geht die Balkontür auf, und Lena kommt heraus.
»Ich hab euch gehört«, sagt sie. »Oma muss aber wieder nach Hause kommen. Wo soll sie denn sonst hin?«
Anscheinend war ihr Fenster gekippt, und sie konnte unser Gespräch mithören.
»Ja, mein Schatz. Aber so einfach ist das nicht. Bestimmt finden wir eine Lösung.«
»Ich will nicht von hier wegziehen. Und Oma soll auch wieder da sein«, sagt sie.
Wünsche, die ich zwar verstehen kann, die sich jedoch nicht mit meinen decken. Dennoch bin ich froh, dass Lena nicht allzu viel von dem Stress mitbekommen hat. Sonst würde sie sich nicht so äußern.
»Versprichst du mir das?«, fragt sie.
»Nein. Das kann ich dir nicht versprechen. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll«, erkläre ich ehrlich.
Es ist leider die Wahrheit. Kürzlich hat mir die Freundin, die im Seniorenheim arbeitet, erklärt, dass Menschen mit Demenz noch viele Jahre vor sich hin vegetieren können, bevor sie endlich sterben. Jahre! Was für ein schrecklicher Gedanke.
»So wie es aussieht, wird Oma wieder nach Hause kommen«, sage ich. »Wie es dann für uns weitergeht, kann ich dir leider noch nicht sagen.«
Ich beruhige Lena damit, dass wir alle Entscheidungen unsere Familie betreffend gemeinsam treffen werden. Wir werden nicht umziehen, ohne mit ihr vorher darüber zu reden. Mit dem Versprechen erklärt sich Lena bereit, wieder ins Bett zu gehen.
Fluchtgedanken
Kurz bevor meine Mutter nach Hause kommt, treffe ich Inga im Krankenhaus. Sie kommt gerade von einem Besuch bei meiner Mutter. Ich bin gerührt. Sie war vor einiger Zeit mal zur Aushilfe bei uns – stundenweise half sie bei der Betreuung mittags und im Haushalt. Inga ist selbstständig, hat einen Gewerbeschein und bietet mir spontan an, sich rund um die Uhr um meine Mutter zu kümmern, als ich ihr unsere Probleme schildere. Ihre letzte Patientin ist gerade verstorben, und sie hat Zeit. Von Tanja haben wir uns getrennt, und Samanta kann die Pflege nicht allein schultern, deswegen willige ich ein. Ich bin froh, eine neue Lösung gefunden zu haben. Auch wenn es nicht so läuft, wie ich das ursprünglich wollte.
Zu Hause hat sich nichts geändert. Die Lage ist weiterhin angespannt. Mein Vater beginnt um sechs Uhr morgens seinen Gang zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Fünf Minuten später geht er wieder hin, um zu sehen, dass er sie schon geholt hat. Er schaut in den Kasten, schließt ihn wieder und geht zurück. Diese Szene wiederholt sich drei bis vier Mal, bis wir gegen sieben aus dem Haus gehen. Jeden Morgen wache ich mit dem Knarren der Tür auf und weiß: Mein Vater ist wieder unterwegs. Und immer schwingt die Angst mit, hoffentlich weckt er meine Mutter nicht auf. Inga kommt erst gegen acht Uhr. So oft habe ich ihn gebeten, einfach bis sieben im Bett liegen zu bleiben, aber er hat jegliches Zeitgefühl verloren. Noch vor ein paar Jahren war er derjenige, der am längsten im Bett lag. Frühstück gab es bei meinen Eltern meist erst gegen neun Uhr. Jetzt ist alles anders.
Eine große Unruhe beherrscht ihn, die ihn ständig dazu treibt, umherzulaufen. Nachdem dies so auffällig wurde, habe ich im Internet recherchiert und gelesen, dass die Rastlosigkeit ein Verhaltensmerkmal bei einer Depression sein kann. Überhaupt passt das ganze veränderte Verhalten meines Vaters auf die Beschreibung einer schweren Depression. Zwar wird er medikamentös behandelt, es scheint aber nicht viel zu bringen. Die Rastlosigkeit macht mich ganz verrückt, weil ich immer befürchte, dass ihm ein Blödsinn einfällt oder er meine Mutter weckt. Es ist schon öfter vorgekommen, dass sie durch sein Herumgelaufe aufgewacht ist. Sie fängt dann an zu rufen oder versucht, sich aufzurichten, was wiederum dazu führt, dass
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