Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
mein Vater übellaunig wird. Immer wieder musste ich nach unten, weil ich befürchtete, dass die Situation im Erdgeschoss eskaliert. Mehrmals habe ich die Pflegerin geholt, weil ich selbst nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Sie kennt die Eltern mittlerweile besser als ich und weiß, was zu tun ist. Ich tue das nicht gern, weil sie zum einen nicht immer Dienst hat und zum anderen meistens um diese Uhrzeit noch gar nicht wach ist.
An diesem Morgen jedoch ist meine Mutter noch nicht wach, als Lena mit mir zum Auto geht. Kaum öffnen wir die Wohnungstür oben, geht zeitgleich unten die Tür auf, und mein Vater prescht heraus. Ich atme tief ein und sammle meine Kräfte. Er ist ein alter, einsamer Mann, der seine Frau und sein Leben verliert – ich muss nett zu ihm sein, denke ich immer wieder.
»Guten Morgen!«, rufe ich fröhlich. »Alles klar bei dir?«
Eine obligatorische Frage, auf die ich keine Antwort erwarte. Seit Monaten höre ich nur, wie schlecht es ihm geht und wie sehr er sich wünscht, tot zu sein.
»Guten Morgen«, brummelt er und läuft neben uns her zum Gartentor. Dabei murmelt er etwas Unverständliches und schüttelt den Kopf.
Soll ich ihn fragen, was passiert ist? Verstohlen schaue ich auf die Uhr. Es ist höchste Zeit für uns, Lena muss zum Zug.
»Ich komme heute Mittag mal vorbei«, sage ich, damit er das Gefühl hat, ich kümmere mich. Aber jetzt geht es einfach nicht.
»Jaja … immer im Stress. Kenn ich schon«, beklagt er sich.
Ich gehe nicht darauf ein, wir rufen ihm nur ein fröhliches Servus zu. Lena winkt noch aus dem Auto. Und wieder steht er am Tor und winkt uns nach. Und wieder sehe ich ihn bis zur nächsten Kurve im Rückspiegel. Da steht ein gebrochener alter Mann, der mit der Welt hadert.
Wie wäre es nur, wenn ich mal ohne Kloß im Bauch morgens wegfahren könnte? Als Lena noch kleiner war, hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich zur Arbeit fuhr und sie nicht mitkonnte. Heute habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht genug Zeit für meine Eltern habe. Hört das denn nie auf?
Mir wird bewusst, dass das Leiden meiner Eltern durch die örtliche Nähe rund um die Uhr für mich präsent ist. Ich bin ständig in irgendeiner Form damit konfrontiert. Schon lange beneide ich meine Brüder, die nach ihrem Besuch die Tür hinter sich schließen und der Situation dadurch entfliehen können.
Wie kann ich nur entkommen? Diese Frage stelle ich mir immer öfter, und eines Tages habe ich eine Idee. Eine Treppe am anderen Ende des Hauses, die zu unserer Wohnung in den ersten Stock führt, könnte die Lösung sein. Keine Pflegerin, die mich mittags erwartet, kein Vater, der hinausprescht, wenn ich morgens zur Arbeit fahre. Wir wären wieder für uns.
Ich rufe einen meiner Brüder an. Kaum trage ich ihm meinen Vorschlag vor, wird er sofort abgeschmettert – mit der Begründung, dass eine Baumaßnahme für meine Eltern in ihrem Zustand eine Zumutung wäre. Wie so oft geht es mal wieder nur um die Eltern, denke ich. Wer macht sich denn mal Gedanken über mich und meine Familie?
Ich knalle den Telefonhörer auf den Tisch. Jens sieht mich erstaunt an.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»Die Eltern, die Eltern, die Eltern …«, fahre ich ihn an. »Immer geht es nur um sie. Wer fragt eigentlich mich, wie es mir geht?« Ich merke, wie mein Temperament mit mir durchgeht. »Ich hab doch alles versucht, aber sie helfen nicht mit!« Ich merke, dass ich mich in Rage rede. »Und jetzt, nachdem es langsam unerträglich wird im Haus, soll ich meine Koffer packen! Wieso denn ausgerechnet ich und nicht die Eltern? Die sind doch das Problem, oder?«
»Sagt wer?«, fragt mich Jens.
»Na, das ist doch klar. Wenn ich ein Problem habe, muss ich ausziehen. Aber wir haben uns doch hier etwas aufgebaut, die Wohnung renoviert. Und überhaupt ist das doch unser Zuhause! Das scheint niemanden zu berühren!«
»Warum regst du dich so auf?«, fragt Jens.
»Ich rege mich auf, weil ich keine Anerkennung bekomme, für das was wir hier leisten. Vater ist nur bockig und böse, und alles was ich vorschlage, um unsere Situation zu verbessern, wird abgelehnt.«
Meine Brüder haben keine Ahnung, was es bedeutet, tagtäglich mit der Pflegesituation konfrontiert zu sein. Was es heißt, wenn jedes Geräusch in unsere Wohnung getragen wird, jedes Türknallen mich zusammenzucken lässt, jedes Rumpeln aus der unteren Wohnung Adrenalin in meine Adern schießen lässt. Diese Ahnungslosen, sie haben
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