Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Aufstehen!«, ruft er. »Und natürlich ist niemand da! Ich muss alles selbst machen.«
Was ist nur in ihn gefahren? Ständig tut er Dinge, die mich und andere in Schwierigkeiten bringen. Er sucht nach Aufmerksamkeit und merkt offenbar gar nicht, welchen Psychoterror er veranstaltet.
Schnell entscheide ich, dass Lena allein zum Bahnhof gehen muss. Ich eile wieder nach oben und packe das Pausenbrot in die Schultasche.
»Du musst zu Fuß gehen. Tut mir leid, aber ich muss mich um die Großeltern kümmern. Da gibt es Stress«, erkläre ich ihr gehetzt.
Lena runzelt die Stirn: »Oh Mann! Ich will aber nicht zu Fuß gehen. Dann warte ich eben, bis du Zeit hast«, sagt sie bestimmt.
»Das geht nicht! Ich muss gleich zur Arbeit. Ich kann dich nicht in die Schule fahren«, gebe ich zurück.
»Ich will aber nicht zu Fuß gehen!« Lena ist stur.
»Du gehst jetzt sofort, sonst kannst du was erleben!«, brülle ich sie an.
Erschrocken schaut sie mich an, zieht ihre Schuhe über und läuft beleidigt davon. Das fehlt mir noch, eine bockige Tochter. Spinnen jetzt alle?
Kaum ist sie durch die Haustür gegangen, eile ich wieder ins Schlafzimmer meiner Eltern. Ich stelle meinen Vater zur Rede, warum er Mutter geweckt hat. Aber ich bekomme keine Antwort von ihm. Stattdessen schimpft er weiter mit seiner Frau, weil sie versucht, sich aufzurichten. Er drückt sie immer wieder unsanft in die Kissen.
»Jetzt lass sie einfach in Ruhe!«, schreie ich ihn an. »Das gibt’s doch nicht. Erst weckst du sie, dann wunderst du dich, dass sie aufstehen will.«
Mutter ist völlig durcheinander. Sie stammelt Wortsilben ohne Sinn vor sich hin.
»Kannst du bitte mal aus dem Schlafzimmer gehen?«, fahre ich meinen Vater an. »Raus!«
Ich bin so wütend, dass ich gar nicht mehr aufhören kann zu schreien. Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich so mit ihm umgehe.
Ich gehe zu meiner Mutter und helfe ihr, sich aufzurichten. Leise rede ich auf sie ein, damit sie sich wieder beruhigt. Sie kann nicht mehr allein sitzen und kippt nach links oder rechts, wenn ich sie loslasse. Ich fühle mich so hilflos. Sie in den Rollstuhl zu setzen schaffe ich nicht allein. Sie ist viel zu schwer für mich. Von draußen höre ich, wie mein Vater mal wieder zum Briefkasten rennt. Die Tür fällt knallend ins Schloss, gleichzeitig fällt meine Mutter haarscharf am Bettgitter vorbei zur Seite um. Leise schluchze ich auf. Ich kann nicht mehr. Das ist ein nicht enden wollender Wahnsinn. Und ich kann nicht weg. Ich muss doch aus diesem Horror irgendwie rauskommen können.
Ich versuche, meine Mutter auf den Rücken zu rollen, damit sie wieder liegen kann. Als es mir endlich gelingt, richte ich den oberen Teil des Bettes etwas auf. So kann sie aufrechter sitzen, was endlich dazu führt, dass sie ruhiger wird. Mittlerweile ist es halb acht. Gleich kommt Inga. So lange bleibe ich bei Mutter sitzen und warte. Ihre Augen sind leer und liegen tief in den Höhlen. Ohne ihre Zähne sieht sie aus wie ein Zombie. Ihre Finger suchen nach etwas, ihr Blick ist leicht panisch. Ich gebe ihr ein Hemd in die Hand, das am Bett hängt, damit das Suchen ein Ende hat. Wie ein kleines Kind fingert sie an dem Hemd herum und ist erst einmal beschäftigt.
Während mein Vater im Flur herumpoltert, denke ich über das Leben nach. Mutter, warum lebst du noch?, frage ich mich. Was für einen Sinn macht das? Schon vor zwei Jahren hat sie gehofft, sterben zu können. Doch wie es aussieht, ist sie zum Weiterleben verdammt. Einen glücklichen Eindruck macht sie schon lange nicht mehr. Alles in ihrem Leben ist zum Albtraum geworden. Immer öfter frage ich mich, wieso sie das aushalten muss. Im selben Moment kommt Inga zur Tür herein.
»Guten Morgen«, ruft sie fröhlich.
Woher sie nur immer die gute Laune nimmt?
»Guten Morgen«, antworte ich mit einem schiefen Lächeln.
»Was hat dein Vater wieder angestellt?«, fragt sie.
Ich erzähle ihr, was vorgefallen ist.
»Warum macht er das nur?«, fragt sie.
Das allerdings frage ich mich auch.
Als die Szene sich am kommenden Wochenende wiederholt und er noch zusätzlich das Kofferradio ins Treppenhaus stellt, um uns mit lauter Musik aus dem Bett zu holen, reicht es mir endgültig. Eigentlich kann er doch jederzeit bei uns klopfen, wenn er ein Problem hat, denke ich.
Plötzlich begreife ich, was sich da in meinem Leben abspielt. Mit jedem Tag der Verschlechterung im Leben meiner Eltern projiziert mein Vater seine Probleme mehr und mehr auf
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