Mutterliebst (German Edition)
Wimper. „Oder nachdem der Mörder ihn bewusstlos in Jonas’ Zimmer geschleift hat – mit der Absicht, Jonas umzubringen und Max wie den Täter aussehen zu lassen.“
„Wir werden nicht eher wissen, was geschehen ist, bis wir eine Chance haben, mit Max zu sprechen“, erwidert er. „Auch wenn Maitland dokumentiert hat, dass Max sich nach seinen psychotischen Schüben normalerweise an nichts erinnern kann.“
Danielle schüttelt den Kopf. „Ich glaube Maitlands Eintragungen nicht.“
„Und warum nicht?“
Sie hält sich gerade noch zurück. Das ist nicht der rechte Zeitpunkt, um zuzugeben, dass sie in das Computersystem der Klinik eingebrochen ist und Einträge aus Max’ Patientenakte gelesen hat. „Es ist einfach so ein Gefühl.“
Er wirft ihr einen scharfen Blick zu. „Gefühle sind kein Beweis.“ Danielles Wangen sind flammend rot. Tony verschränkt die Arme über der Brust und betrachtet sie genau. „Also, hast du irgendeine Idee, wer das getan haben könnte? Immerhin hattest du ja einige Zeit, darüber nachzudenken.“
Danielle spürt, wie sich ihr Magen verkrampft. Seit diesem unaussprechlichen Moment, als sie Max blutüberströmt, auf dem Boden zusammengekauert und mit dem Kamm in der Hand vorgefunden hat, hat sie kaum an etwas anderes gedacht. In jener Situation konnte sie nur daran denken, dass er lebte, dass er sicher war. Und auch jetzt kann sie an nichts anderes denken.
Und es ist durchaus möglich, dass es neben Max noch einen anderen Verdächtigen gibt. Schließlich hat sie diese Möglichkeit nicht konsequent durchgespielt. Als sie im Gefängnis die furchtbare Szene zum hundertsten Mal durchgegangen ist, da erinnerte sie sich plötzlich daran, eine Gestalt an Jonas’ Fenster vorbeihuschen gesehen zu haben – kurz nachdem sie Max auf dem Boden entdeckt hatte. Unmittelbar nach dem Aufruhr und Horror, Jonas tot und Max blutüberströmt und bewusstlos vorgefunden zu haben, gingen ihr nur vage Erinnerungsschnipsel dieser schrecklichen Minuten durch den Kopf. Erst später, nach ihrer Verhaftung und im Gefängnis, als sie still und allein in ihrer Zelle saß, schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf die Bilder. Sie tauchten vor ihrem inneren Auge auf, flüchtige Erscheinungen, wie durch Milchglas hindurch gesehen und dann auch schon wieder verschwunden.
Sie stellt sich dieselbe Frage, die sie auch im Gefängnis gestellt hat: Hat sie wirklich jemanden gesehen, oder versucht sie nur verzweifelt, einen weiteren Verdächtigen zu finden? Selbst wenn sie nicht glauben kann, dass Max Jonas ermordet hat, versucht sie jetzt vielleicht, die Vergangenheit zu beschönigen? Will sie nicht nur Maitlands Behauptung leugnen, dass Max psychotisch ist, sondern auch die Tatsache, dass er offensichtlich mehrfach Halluzinationen darüber hatte, dass Jonas ihn töten wollte? Und vor sich selbst kann sie auch nicht abstreiten, dass sie Max mit dem blutbesudelten Kamm in der Hand vorgefunden hat.
Sie schüttelt den Kopf. Als seine Mutter kann sie einfach nicht glauben, dass ihr Sohn einen Mord begangen hat. Schließlich kennt sie ihn besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Es muss einen anderen Verdächtigen geben – den wahren Mörder. Wenn er nicht existiert, bleibt nur noch das Undenkbare: Max wird den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbringen – oder sogar im Gefängnis. Und zwar ohne sie. Nein, sie kann nicht an diesen dunklen Ort zurückkehren, egal für wie unausgeglichen oder gewalttätig Maitland ihren Sohn hält. Sie seufzt. Einem Mandanten würde sie so eine Geschichte niemals abkaufen – und Tony wird das auch nicht tun. Egal. Selbst wenn sie sich selbst belügt und es keinen weiteren Verdächtigen gibt, müssen sie trotzdem eine Verteidigung aufbauen, die genug Zweifel in den Köpfen der Geschworenen sät, um Max freizusprechen. Angesichts der erdrückenden Beweislast gegen ihn scheint das beinahe unmöglich. Selbst ohne die kritische Information, die sie zurückgehalten hat.
Ihre Gedanken sind wie Giftpfeile. Jede Überzeugung, jeder moralische Wert, den sie für unabänderlich gehalten hat, richtet sich nun gegen dieses eine Ereignis, diesen einen Moment in ihrem Leben. Als Anwältin und Justizangestellte glaubt sie an das System mit all seinen Schwächen. Als Mensch glaubt sie an Richtig und Falsch. Es ist ihre Pflicht, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn diese Wahrheit das Leben ihres Sohnes gefährdet und in Stücke
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