Mutterschuldgefuehl
über mehr oder weniger opulente Körperformen bis hin zu auffälliger Säuglingsakne oder Neurodermitis -, sondern sind sehr interessiert daran, auch den Müttern mal eben so im Vorbeigehen eine Standpauke zu halten. Jeder meint, sein Scherflein zu einer gelungenen Kinderaufzucht beitragen zu können. Zwar haben längst nicht mehr alle eigene Kinder, aber alle haben eine eigene Mutter. Da kann man doch mitreden. Gibt es heutzutage eine Frau mit Kindern, die wegen solch charmanter Wortbeiträge nicht schon einmal Tränen in den Augen hatte?
Besonders verblüffend ist für mich immer noch die Gruppendynamik im Supermarkt. Ich wusste nicht, dass Deutsche öffentlich so leidenschaftlich agieren können, wenn sie sich durch eine Mutter ihrer Ruhe beraubt fühlen. Ich wusste nicht, dass Risiko und Gefahr im Einzelhandel lauern.
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Wir stehen an der Kasse in der Schlange. Es ist kurz vor Feierabend. Die Luft ist stickig. DrauÃen ist es schon dunkel. Es riecht nach muffigen Mänteln und kaltem Zigarettenrauch. Mein Kind liegt vor mir im Kinderwagen und schläft. Und dann schläft es nicht mehr. Es wacht auf und schreit und sieht nicht ein, dass das gerade ungünstig ist. Mit anderen Worten: Ich bin mit einem schreienden Kind in der Warteschlange im Supermarkt fest verkeilt. Sofort steigt Panik in mir auf. Jetzt geht es gleich los. Jetzt entfaltet sich das teutonische Temperament.
Der Mittvierziger hinter mir wirft theatralisch die Augen zum Himmel und seufzt herzzerreiÃend laut. Die Frau vor mir schüttelt stumm und erschüttert den Kopf. Menschen an anderen Kassen und um uns herum fangen an, nervös mit den FüÃen zu scharren und eindeutiges Fluchtverhalten zu zeigen. Und von hinten brüllen sie aufmunternde Kommentare:
»Meine Ohren!!!«
»Ruhe!«
Oder:
»Wo ist die Mutter?«
Die Kassiererin kaut genervt auf ihrem Kaugummi.
Ich würde vielleicht etwas erwidern, würde vielleicht an gesunde Höflichkeitsformen erinnern oder auch mal »Ruhe!« brüllen, wenn ich nicht so müde wäre, so erschöpft, unsicher und verzagt und überhaupt das Gefühl hätte, es sei alles meine Schuld. Ich weià ja, dass ich das Kind nicht im Griff habe. Ich lächele schwach. Entschuldigt, dass wir auf der Welt sind. Mit einem groÃen Kloà im Hals eile ich mit dem schreienden Kind davon. Und merkwürdigerweise ist da auch niemand, der ein gutes Wort für uns einlegt.
Denn warum auch?
Störfaktor Kind
Die Abneigung gegen Kinderlärm findet interessanterweise ihre Entsprechung in der deutschen Gesetzgebung. In der Verfassung sind Rechte von Kindern nicht verankert. Obwohl immer mehr Gerichte kinderfreundlich entscheiden, können Familien prinzipiell immer noch aus der Wohnung geklagt werden oder Kindergärten können geschlossen werden, wenn sich Nachbarn von der Lautstärke belästigt fühlen. In einer Welt, in der immer weniger Menschen Kinder bekommen, sind viele Erwachsene das Leben mit Kindern nicht mehr gewöhnt. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren nur 10 Prozent aller Frauen kinderlos. Heute sind es mehr als 30 Prozent. In Hamburg zum Beispiel wohnen nur noch in jedem zehnten Haushalt Kinder.
Das macht das Leben für Eltern nicht einfacher. Tagsüber gehe ich mit meiner Tochter nicht nur wegen der frischen Luft viel spazieren, sondern auch, damit andere sich nicht vom Babygeschrei gestört fühlen. Nachts hetze ich zu meinem brabbelnden Baby und versuche es ruhig zu wiegen, bevor es überhaupt anfangen könnte zu schreien. Meinem Mann diese Aufgabe zu erteilen, ist zwecklos. Er kann nicht nur
nicht stillen, er wird auch erst dann wach, wenn ich schon hellwach neben ihm liege und energisch mit den Fingern auf der Matratze trommle. Nein, das kann ich mir gleich sparen.
So gebe ich mir keine Ruhe, damit die Ruhe der anderen nicht gestört wird. Und je mehr Horrorgeschichten ich aus dem Bekanntenkreis über aggressive Nachbarn höre - wie die von den Menschen, die einen Eimer Wasser vom Balkon auf ein brüllendes Baby auf dem Balkon unter ihnen schütteten -, desto gehetzter fühle ich mich.
Freies Lachen, Singen, unbekümmertes Schreien, Brüllen und Jauchzen - ach, wäre das schön! Bilde ich mir das nur ein oder stören sich wirklich mehr Menschen an Kinderlärm als am Geräusch mehrspuriger StraÃen? Vielleicht denken sie, dass Automobile
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