Mutterschuldgefuehl
frei!«
Endlich die Theorie, die mir den Rücken stärkt, wenn ich meine Töchter nicht ständig optimieren will, sondern ihnen schlicht die Zeit geben will, schön zu spielen. Endlich mein »Zurück zur Natur«, mein »Zurück zu Bullerbü«.
Die totale Ãberwachung, zum Wohle des Kindes?
Andere Mütter aber - von denen einige wirklich an die Sache glaubten, die Blut und Schweià geschwitzt haben, ihre Kinder zu verbessern und die dringend angemahnte Förderung angedeihen zu lassen, die jahrelang aufmerksam Ratgeber lasen, die Tag für Tag zu irgendwelchen Kursen und Angeboten rannten und Unmengen Geld in die Ausbildung investierten - fühlen sich jetzt, gelinde gesagt, auf den Arm genommen. Und sind nicht so leicht gewillt, den neuen Trends mal eben so wieder locker vom Hocker zu folgen. Sie trauen dem Frieden nicht.
Und ein gewisses Misstrauen ist vielleicht angebracht. Meine Freude ist naiv, das merke ich schnell. Denn das Spielen der Kinder ist nicht mehr ihre eigene Welt, die nur ihnen allein gehört, so wie früher. Das Spielen der Kinder wird beobachtet und dokumentiert.
Lidl, Telekom & Co., die ihr eure Mitarbeiter habt heimlich überwachen lassen, ob sie der Firma zuträglich sind: Ihr habt keine Ahnung, was eine gelungene Ãberwachungsstrategie ist. Eine gute Strategie wäre es gewesen, euren Mitarbeitern
zuerst zu erklären, wie wichtig eine beobachtende Wahrnehmung eines jeden Einzelnen ist, um die Kompetenzen eines Individuums zu erkennen und zu fördern. Ihr hättet erklären können, dass Beobachtung und Dokumentation eine Chance zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Arbeit bietet und für euer aller Zukunft auÃerordentlich förderlich ist. Dann hättet ihr ein Merkblatt über Sinn und Zweck einer Dokumentation über den Entwicklungszustand eines Mitarbeiters ausgehändigt und euch eine Einverständniserklärung unterzeichnen lassen, die euch berechtigt, jeden jederzeit zu beobachten und die Beobachtungen nach einer von euch nicht benannten Methode zu dokumentieren und an Dritte weiterzugeben.
Das Einverständnis wäre natürlich freiwillig gewesen, ist doch klar.
Wenn ihr all das gemacht hättet, hätte keiner gemuckt und euch vor den Pranger gestellt. Schaut euch die Kitas an - Beobachtung und Dokumentationen sind das, was Kindern in Kindertagesstätten zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen Tag für Tag geboten wird, und kaum jemand schreit »Skandal!« oder »Wo bleibt die Würde des Einzelnen?«. Denn wir machen das doch alles nur zum Wohle des Kindes.
Ich muss gestehen, bei dieser Beobachtungspraxis ergreift mich heiliger Zorn. SchlieÃlich wird hier kein Arbeitsverhalten dokumentiert, so wie in der Schule, sondern hier wird die Privatsphäre meines Kindes unter die Lupe genommen und als Nachweis für die Bildungsarbeit in der Kita ausgewertet. Diese Dokumentation über mein Kind soll dann von uns an die künftige Schule übergeben werden. Haben Kinder kein Anrecht auf eine Privatsphäre? Auch ihnen steht ein Raum zu, in dem sie sich frei und ungezwungen verhalten können, ohne dass sie befürchten müssen, dass Dritte von ihrem Verhalten Kenntnis erlangen, dass sie beobachtet oder abgehört werden. Ich mag es meiner Kleinen gar nicht erzählen, dass vielleicht einige ihrer kleinen Geheimnisse, über die sie mit Freundinnen tuschelte, in die Einschätzung ihres Entwicklungszustandes von der Erzieherin einfloss, nur weil diese gerade anwesend war. Freiwilliges Einverständnis hin oder
her - ist das überhaupt verfassungsgemä� Im Zweiten Abschnitt zur Familie, Artikel 6 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, da wo meine Familie und ich leben, kann ich lesen:
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»(1) Jedes Kind hat ein Recht auf Achtung seiner Würde als eigenständige Persönlichkeit und auf besonderen Schutz von Staat und Gesellschaft.«
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Ich will hier keinem zu nahe treten - die guten Absichten sind mir durchaus bewusst -, doch schwant mir, dass ich mein Kind vor Staat und Gesellschaft schützen muss, bei dem Eifer, den sie an den Tag legen, mein Kind zu seinem Optimum ausbauen zu wollen. Es geht mir nicht nur um den Schutz personenbezogener Daten, der ja wenigstens von Entscheidungsträgern hier und da diskutiert und angemahnt wird. Es geht mir auch um diese allgegenwärtige Beobachtung, die bei einem erwachsenen Bürger leicht als
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