Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
Gegenüber von ihr will.
Ein typisches Beispiel dafür ist das, was wir heute miteinander erlebt haben.
Ich bin dabei, mit ihr die Briefe der Interessenten am Grafenhäuschen durchzugehen. Bei der letzten Charge war nichts dabei, daher mussten wir noch eine Anzeige schalten. Muddi will das immer mit Postfachangabe, sodass wir die Briefe später gesammelt bekommen. Vor uns stehen zwei dampfende Becher Kaffee, und meine Mutter schiebt mir noch ein Stück Butterkuchen auf den Teller. Dann guckt sie mich nachdenklich an.
»Ob wir jemals jemand finden werden, der sich in unserem Häuschen so wohlfühlt wie wir damals in Bayern, in diesem Ferienort, na, wie hieß das gleich …« Sie hält einen Moment inne und wedelt mit einem der Briefe in der Luft herum. »Weißt du noch, Laura, wo wir da im … Mensch, wie hieß noch mal das wunderschöne Restaurant in Bayern mit der tollen Holzvertäfelung und dem Schuhplattler-Holzboden direkt daneben …?«
»Nutzkaser, Muddi«, antworte ich.
Sie lächelt mich an und schwelgt weiter in Erinnerungen an diesen Gasthof. Ich höre nicht richtig zu, denn ich hätte schwören können, dass sie ganz genau weiß, wie der heißt. Immerhin haben mein Vater und sie ihn in rund vierzig Jahren ihres Bayern-Urlaubswahns unzählige Male aufgesucht!
In meiner Grübelei werde ich durch einen Jubelschrei gestört: Muddi hat eine Antwort auf ihre Anzeige gefunden, die ihr offenbar vielversprechend vorkommt.
Ich lese das Anschreiben durch, das von einer italienischen Kleinfamilie kommt, die in der Tat sehr sympathisch klingt.
»Italiener!«, sagt Muddi versonnen und legt den Brief auf den Stapel mit den Bewerbern, die wir uns gemeinsam ansehen wollen. »Weißt du noch damals, als du klein warst und wir im Sommer in diesen Ferienort ans Mittelmeer gefahren sind, nach …«
»Viareggio«, schiebe ich ein. »Das war in Viareggio bei Pisa.«
»Einen schönen Garten hatte das Haus«, meint Muddi. »Fast so schön wie bei uns.« Sie überlegt einen Augenblick. »Es ist wirklich zu schade«, klagt sie dann, »dass Herr … Dings … nicht mehr meinen Garten pflegen kann. Laura, wie heißt er noch mal? Gott, das kann doch nicht sein, dass ich darauf nicht komme!« Sie blickt mich hilflos an.
Ich blicke ausdruckslos zurück. Nein, Muddi, denke ich, den Namen kannst du nun wirklich nicht vergessen haben! Drei Jahre lang hat Herr Fischer nach dem Tod meines Vaters mit Hingabe zweimal wöchentlich den Garten meiner Eltern gepflegt. Man plauderte miteinander, trank gemeinsam Kaffee und rauchte dazu ein Zigarettchen. Gerade gestern hat sie mir noch erzählt, dass sie Herrn Fischer getroffen hätte. Ihm gehe es so weit ganz gut, vielleicht könne er ja doch wieder für sie arbeiten. Nach zwei Lungenkrebsoperationen ist das wohl eher unwahrscheinlich, hatte ich gedacht, es aber lieber nicht ausgesprochen, um mir nicht wieder eine Strafpredigt über das Rauchen anhören zu müssen.
Nein, ich glaube, ich bin nicht unfair, wenn ich hinter ihrer Vergesslichkeit Absicht vermute. Es ist ihre Methode, ein Gespräch auszuschmücken und somit zu verlängern. Längere Gespräche ergeben mehr Zeit mit ihrem Gegenüber, und sei dieses Gegenüber auch nur die kleine Blonde an der Käsetheke.
Ich stelle mir vor, meine Mutter hätte am heutigen Morgen am Käsestand einfach nur ihren Käse gekauft, anstatt ein Gespräch anzuzetteln.
»Hundert Gramm Appenzeller und zehn Scheiben Greyerzer, bitte!«, hätte Muddi im Militärton gesagt.
»Gerne, Frau Windmann!«, hätte die Verkäuferin geantwortet.
»Bitte sehr!«
»Danke schön!«
»Auf Wiedersehen.«
Das hätte dann nur wenige Sekunden gedauert. Der Dialog, den meine Mutter mit der Käseverkäuferin tatsächlich führte, dauerte garantiert mindestens zehn Minuten.
»Guten Tag«, grüßte sie, »Frau … ehm …?«
»Meier, Frau Windmann«, sagte die Verkäuferin mit einem freundlichen Lächeln.
»Ach jaaa«, stöhnte Muddi gekonnt. »Wie konnte ich das nur vergessen! Wir kennen uns doch schon so lange!«
»Macht ja nichts, Frau Windmann, wir werden ja alle nicht jünger.« Die Verkäuferin raschelte mit dem Einwickelpapier, wohl um eine Bestellung zu provozieren. Vermutlich, weil sie wusste, was auf sie zukommen würde.
»Ja, wem sagen Sie das!«, antwortete Muddi nämlich sogleich. »Zwanzig Jahre kennen wir uns doch sicherlich schon, oder?«
»Ganz bestimmt, Frau Windmann.« Kam es mir nur so vor, oder wirkte das Lächeln bereits etwas gequält?
»Sie
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