Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
meine Mutter unten im Wohnzimmer mit einer Hausarbeit beschäftigt ist, steige ich an diesem Besuchstag die Treppe hinauf und drücke die Türklinke zum Arbeitszimmer meines Vaters herab. Von Zeit zu Zeit, wenn ich ihn besonders vermisse, suche ich diesen Raum auf, um mich ihm nahe zu fühlen.
Muddi hat sein Zimmer exakt in dem Zustand belassen, in dem er es kurz vor seinem Tod das letzte Mal betreten hat. Das war vor zwei Jahren.
Mein Blick wandert über die Regale, in denen diverse Behälter mit Pinseln, Radiergummis und Stiften stehen. Auf dem Schreibtisch liegt seine Pocketkamera, in der sich selbstverständlich noch eine Filmrolle befindet, und der Wochenkalender zeigt einen Donnerstag an, den mein Vater mit der Notiz »Laura kommt« versehen hatte. Neben dieser Notiz befindet sich ein Porträt von mir, gezeichnet mit feinem Pinselstrich – ich lächle darauf und mein Haar fällt mir in einer großen Welle auf die Schultern. Über meinem Kopf prangt ein Heiligenschein, und darum wird mir jedes Mal, wenn ich das Bild betrachte, warm ums Herz. Denn dieser kleine Kringel zeigt mir seine Zuneigung.
Mein Vater und ich hatten uns unendlich lieb. Für ihn blieb ich auch im fortgeschrittenen Alter sein »Hippie«, das Mädchen mit den langen, damals hennagetönten Haaren, die wild und zerzaust waren, wenn sie nach einem Streit mit den Nachbarjungs nach Hause kam. Und er rief nach meinem Auszug von zu Hause mindestens einmal in der Woche an, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung sei. Außerdem wurde er nicht müde, mich zu malen oder zu fotografieren. Mein Vater war künstlerisch sehr begabt, und unseren Lebensunterhalt verdiente er sich als Komiker und Zauberer auf den Bühnen Norddeutschlands.
Ich seufze und wende mich gerade zum Gehen, als ich plötzlich das kleine Chaos entdecke, das Muddi vor dem bemalten Schrank angerichtet hat.
Im Haus meiner Eltern befinden sich drei solcher bemalter Schränke. Ein bemalter Schrank ist übrigens kein gewöhnlicher Schrank, sondern einer, den mein Vater hergerichtet hat.
Schon die Anschaffung solchen Inventars war mit besonderem Aufwand verbunden. Der Schrank in Vatis Zimmer etwa stammt von einer Familie M. in B.
Otto M. war ein Comedy-Kollege meines Vaters in den Fünfzigerjahren. Damals stand Vati oft gemeinsam mit Otto M. auf der Bühne und führte unter anderem einen Trick auf, der »Wasser aus Indien« hieß. Dazu benötigten die beiden eine vermeintlich leere, mit Blümchen bemalte Vase. Der Zauberkünstler spricht einen magischen Vers und gießt daraufhin aus dem Gefäß immer wieder Wasser, das aus geheimnisvoller und unerschöpflicher Quelle zu kommen scheint. Das Publikum staunt und raunt und ahnt nichts von der Doppelwandigkeit des Behälters. Auch sechzig Jahre nach dem letzten Auftritt von Otto und meinem Vater wird dieser Trick noch aufgeführt und garantiert weiterhin den Erfolg von Magie-Vorführungen.
Auch wenn Otto und mein Vater nicht mehr auftreten – der bemalte Schrank erinnert an ihn.
Schrank Nummer zwei stand jahrzehntelang in einer Scheune des Bauern W. in H. Die Spinnweben und Mäusekötel hat Muddi damals in mühsamer, tagelanger Kleinarbeit entfernt, ehe mein Vater endlich kreativ tätig werden konnte. Sie erzählt heute noch gern davon, wie sehr sie geschuftet hat.
Das letzte dieser kostbaren Möbelstücke schließlich stammte aus der Lagerhalle eines ehemaligen Postamts in S. Dort hatte mein Großvater gearbeitet und musste den Schrank, quasi unter »Einsatz seines Lebens«, für meinen Vater »organisieren«. Zu gut Deutsch: Er stahl ihn.
Wer die außergewöhnliche Herkunft der Schränke nicht zu würdigen weiß, steht nicht gerade hoch in der Gunst meiner Mutter. Und wer nicht ausdrücklich lobte, wie lange mein Vater an der Verschönerung der Schränke gearbeitet hat, musste im schlimmsten Fall gar mit der Verbannung aus dem Familienkreis rechnen.
Denn Vati hatte viele Bücher über Bauernmalerei, Rocailles, Ornamentik und die »bewegten Gestalten von Mensch und Tier in ihrer Naturform« gelesen und seine Erkenntnisse sehr akribisch umgesetzt.
Die Schränke sind blau grundiert. Sie haben drei Türen, und jede von ihnen schmückt eine Vielzahl an Ornamenten und Tiermotiven. Hier und dort ziert eine Getreidegarbe oder eine Efeuranke die Seitenteile der Möbel. Oder ein Weidenkorb, gefüllt mit Obst. Nach Art der Bauernmalerei gestaltet, gerieten diese Schränke zu den schönsten Schmuckstücken im Haus meiner Eltern.
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