Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
hat.
»Ja, Lorenzo, ich hab schon gemerkt, dass die Kannen weg sind«, ruft Muddi zurück. »Aber gefunden hab ich sie noch nicht. Sagst du mir bitte, wo du sie versteckt hast?«
Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der irgendwo zwischen Hilflosigkeit und Stolz schwankt. Sie freut sich offenbar, dass sie eine Rolle in Lorenzos Leben spielt, gleichzeitig nervt sie sein aktuelles Lieblingsspiel, das darin besteht, ihre Sachen zu verstecken.
»Nein, Hallihallo«, ruft Lorenzo und lacht. »Das musst du schon selber herausfinden!«
»Unmöglich«, flüstert meine Mutter mir zu, »wie soll ich das denn machen? Ich find doch so schon nichts wieder …«
Als Lorenzo von seiner Mutter ins Haus zitiert wird, hakt sich Muddi bei mir unter.
»Ich vergess immer mehr, Laura«, sagt sie und seufzt. »Komm, wir setzen uns hinten an den Gartentisch, ja?«
Das Grundstück hat rund zweitausend Quadratmeter, und wir flanieren gemeinsam bis zum Gartenzaun am Ende. Neben dem Gartenhäuschen, dessen gesamtes Interieur eigens aus Bayern und Österreich importiert wurde, steht dort seit etwa zwanzig Jahren ein großer Gartentisch mit sechs Stühlen aus dunklem, schwerem Holz. Muddi liebt diesen Platz am Tisch, der von einem Sonnenschirm mit dem Werbeaufdruck einer Bierbrauerei aus Bad Reichenhall beschattet wird.
Sie wischt energisch einige Tannennadeln von der geblümten Wachstuchdecke und gießt uns dann beiden je ein Glas Cola ein. Eine Flasche hat sie immer in der Gartenlaube stehen, ebenso das für überraschend eintrudelnden Besuch nötige Geschirr und Besteck. Darüber hinaus finden sich dort Kerzen, Aschenbecher, Servietten, Butterkekse, Papiergirlanden, Fotos von unserem verstorbenen Dackel, Postkarten aus verschiedenen Urlaubsorten, Zahnstocher, Würfelzucker, Strohhalme, Vasen, geschätzte vierzig Kissen, circa dreißig Bohnensamentüten, Pappbecher und Plastikteller für die nächste Gartenparty, Glühbirnen und einige Boxen für Johannisbeeren, die Muddi Besuchern gerne mitgibt.
Nachdem wir beide einen Schluck getrunken haben, sieht meine Mutter mich nachdenklich an.
»Laura«, sagt sie, »manchmal denk ich, mein Hirn ist geschrumpft.«
»Wieso das denn?«
»Ach, ich glaube nur, ich verblöde langsam«, klagt Muddi. »Mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Aber das geht auch Margot so. Wir kommen oft nicht mal mehr auf die einfachsten Begriffe und Namen.«
»Welche denn zum Beispiel?«
»Na, neulich sage ich zu ihr: ›Weißt du, Margot, die Witwe vom Johannes Heesters, die … du weißt schon, die kleine Dunkelhaarige, die war doch so viel jünger als der Jopie …‹ Dann sagt Margot meistens: ›Ach Mist, ich komm da auch grad nicht drauf … ich ruf dich heute Abend an, wenn es mir wieder eingefallen ist.‹ Und während Margot ihr Stückchen Sachertorte isst, sehe ich an ihrem verkniffenen Blick, dass sie die ganze Zeit überlegt. Sie heuchelt mir zwar vor, dass sie gedanklich schon ganz woanders ist, aber in Wirklichkeit versucht sie krampfhaft, auf den Namen zu kommen, um schneller zu sein als ich. Kannst du dir das vorstellen?«
Ich muss grinsen. Ja, ich kann mir die Situation sehr gut vorstellen.
Meine Mutter deckt ihr Glas zum Schutz vor anfliegenden Wespen ab, anschließend versucht sie, den Sonnenschirm ein wenig zu verstellen, was ihr aber nicht gelingt.
»Und dann ist es halb elf abends«, fährt sie schließlich fort. »Das Telefon klingelt, und wer ist dran? Genau, Laura, natürlich Margot. Ohne einen Gruß meldet sie sich nur mit den Worten: ›Simone Rethel!‹ Dann erklärt sie mir, ihr sei der Name eingefallen, als sie sich die Zähne geputzt habe. Sie hätte die Zahnbürste schnell weggelegt und sei ins Wohnzimmer gestürzt, um mich anzurufen. ›Der Triumph ist mein!‹, hat sie geschrien. Und ich ärgere mich halb tot, weil ich nicht darauf gekommen bin!«
In meinem Kopf läuft ein kleiner Film ab. Margot und meine Mutter als erbitterte Konkurrentinnen im Kampf gegen das Vergessen. Die beiden Frauen blättern unabhängig voneinander zu Hause alte Frauenzeitschriften durch, um das letzte Interview mit Johannes Heesters zu finden, in dem er liebevoll von seiner Frau spricht. Wenn sie es entdeckt haben, lassen sie alles fallen und laufen zum Telefon. »Neiiin«, kreischen sie dabei, »ich muss jetzt schneller sein als sie … Ich will die Erste sein!« Und am Ende brüllen sie dann gleichzeitig in den Hörer: »Simone Rethel!« Berauscht vom eigenen Triumph schlafen sie schließlich selig
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