Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
Straßenlärm!«
Meine Mutter harkt unbeirrt weiter.
Ich halte ihre Harke fest und zwinge sie damit, innezuhalten.
»Lorenzo will wissen, ob du ihm was mitbringst«, teile ich ihr mit.
Jetzt wirft meine Mutter die Harke, die wir haben, seitdem ich klein bin – Muddi und Vati haben sich lediglich eine einzige neue Harke zusätzlich angeschafft, und das war vor rund zehn Jahren –, auf den Rasen und stapft in Richtung Hecke.
»Was hast du gesagt, Süßer?«, ruft sie Lorenzo zu.
Sie strahlt den Kleinen an. Trotzdem weiß ich ganz genau, dass sie mittlerweile etwas ungnädig ist, weil sie sich über ihr schlechtes Gehör ärgert und er sie daran erinnert hat.
»Also, Hallihallo, wieso hörst du mich denn nicht?«, fragt er. »Brauchst du vielleicht ein Hörgerät?«
Kindermund tut Wahrheit kund. Lorenzo bohrt in Muddis tiefster Wunde. Und deshalb antwortet meine Mutter erschrocken abwehrend und fuchtelt dabei wild mit den Armen in der Luft herum.
»Um Gottes willen, Lorenzo! Ich brauch doch kein Hörgerät! Ich bin doch keine alte Oma! Weißt du, die Autos sind so laut, da kann ich ja gar nichts anderes hören! Nein, ich höre noch sehr gut! Nachts hör ich sogar, wenn der Videorekorder brummt!«
Lorenzo hat sie während dieser ausschweifenden Ansprache nur mit großen Augen angesehen, nun blickt er über die Schulter kurz zu seiner Mutter.
»Lorenzo«, zischt diese ihm zu, »wie kannst du nur …! Hallihallo kann noch ganz wunderbar hören! Du musst nur lauter und deutlicher sprechen, das hab ich dir schon tausendmal gesagt! Und komm sofort vom Tisch herunter, du weißt doch, dass du das nicht sollst!«
Lorenzo duckt sich ein wenig ob der doppelten Belehrung, zuckt mit den Schultern und springt vom Gartentisch herunter.
Ein wenig später sitze ich mit Muddi am Frühstückstisch und esse mein geliebtes Toastbrot mit Krabbensalat »Sylter Art«. Nebenher läuft das Frühstücksfernsehen, wo in der Werbepause Schokoriegel angepriesen werden.
»Philipp sagte, dass sie in Tokio Kitkat-Schokolade in zwanzig verschiedenen Geschmacksrichtungen haben. Es gibt sogar eine mit grünem … Muddi?!«
Meine Mutter hat gerade die Lautstärke des Fernsehers hochgestellt. Ich rede lauter, aber gegen Nina Hagens Stimme komme ich nicht an. Die ist an diesem Morgen Interviewpartnerin im Frühstücksfernsehen und berichtet über Karma und Chi.
»Gott, die hat aber auch eine laute Stimme!«, brüllt Muddi zu mir gewandt.
»Mach doch einfach leiser!«, rufe ich ihr zu.
Sie fummelt an der Fernbedienung herum. »Verdammter Mist! Die Tasten funktionieren wieder nicht richtig, Laura!«
»Gib doch mal her!«, schreie ich zurück, während Nina schallend lacht: »Hahaha … ach, dit is ja witzig, dit dir meene Frisua jar nicht uffjefallen is, hahaha … dabei war ick jestern noch extra für die Sendung zum Friseur … hahahaaaa!«
»Muddiii!« Ich reiße meiner Mutter die Fernbedienung aus der Hand und drücke auf die Lautstärketaste. Gott, ist das ein gutes Gefühl, Nina Hagens Lachen auf stumm schalten zu können! Ich mag sie ja, aber mit so vielen Dezibel ist sie einfach unerträglich!
Vorsichtshalber lege ich die Fernbedienung direkt vor mir auf den Tisch, damit ich rechtzeitig eingreifen kann, falls Muddi noch mal auf die Idee kommt, Frau Hagen zu laut zu stellen …
Nachdem meine Mutter für die vorherige Lautstärke eine Ausrede gefunden hat – »Der Fernsehheini hat die Tasten verstellt, Laura!« –, traue ich mich endlich, die Frage aller Fragen zu stellen.
»Wie war eigentlich dein Termin bei der Hals-Nasen-Ohren-Ärztin?«
Muddi winkt ab. »Ach Laura, die hatte ja gar keine Ahnung. Die wollte mir tatsächlich ein Hörgerät aufschwatzen. Mir! Dabei höre ich doch nachts sogar den Videorekorder brummen!«
Hatte sie den Videorekorder vorhin nicht schon mal erwähnt? Misstrauisch geworden, stehe ich auf, gehe zum Hi-Fi-Schrank und drücke beim Videorekorder, Baujahr 1985, auf Power. Nichts passiert.
»Oh, da musst du ganz lange draufdrücken, glaub ich. Hat dein Vater auch immer gemacht«, erklärt Muddi.
Ich drücke lange, sehr lange. Nichts geschieht.
»Also, das kann ja nicht sein, dass der nicht geht, Laura«, sagt meine Mutter und tritt kopfschüttelnd näher. »Vor zwei Jahren hat Vati damit noch das Traumschiff aufgenommen.«
Ich ziehe den Rekorder aus dem Schrank und finde bestätigt, was ich schon geahnt hatte: Der Rekorder hat gar kein Netzkabel mehr.
»Muddi«, sage ich so sanft wie möglich,
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