Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
gesellschaftlichen Problem entwickelt. Hier werden die bleichgesichtigen Nerds, die oft mit über 30 noch bei den Eltern leben, tagsüber schlafen und nachts vor Fernseher und Computer sitzen, Hikikomori genannt. Das Wort bedeutet: der vollkommen Zurückgezogene. Als eine Ursache für dieses unreife Verhalten wurde die gerade in der japanischen Kultur besonders stark ausgeprägte Mutter-Kind-Beziehung, in der das Kind nach westlichen Maßstäben sehr verwöhnt wird, diagnostiziert.
Einen deutlichen Hinweis darauf, dass es sich bei der Verlängerung der Kindheit nicht um wenige Ausnahmen handelt, sondern um ein Massenphänomen, liefert die Statistik. So lag nach Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Union im Jahr 2007 das Durchschnittsalter junger Menschen beim Verlassen des elterlichen Haushaltes in manchen europäischen Ländern bei über 30 Jahren. In Italien etwa verließen Männer im Schnitt mit 30,1 Jahren die Eltern, Frauen mit 29,5 Jahren. Und das ist der Durchschnitt, wohlgemerkt! Das heißt, dass auf jeden jungen Menschen, der sein Elternhaus mit 18 Jahren verlässt, rein rechnerisch einer kommt, der erst mit 42 Jahren auszieht.
Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2010 belegen, dass in Deutschland 64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen noch mit ihren Eltern in einem Haushalt zusammenleben. Junge Männer bleiben dabei deutlich häufiger im elterlichen Haushalt wohnen (71 Prozent) als junge Frauen (57 Prozent).
Das gängige Erklärungsmuster für diese Zahlen lautet, dass es schließlich auch eine Frage des Geldes ist, sich abzunabeln. Gerade in Ländern wie Spanien oder Griechenland gibt es heute eine große Jugendarbeitslosigkeit, sodass viele junge Menschen nicht über eigene Mittel verfügen, um sich eine Wohnung leisten zu können. Auch in Deutschland mag das für den einen oder anderen der Grund sein, nach seinem Schulabschluss zu Hause wohnen zu bleiben. Bei Lehrlingen und Studenten jedoch sorgen hierzulande BAföG und Berufsausbildungsbeihilfe dafür, dass zumindest ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft möglich sein müsste. Das ist dann allerdings nicht so komfortabel wie die Vierzimmerwohnung oder das Einfamilienhaus, das die jungen Menschen verlassen würden.
Und die Eltern? Die greifen ihren Sprösslingen doch gerne unter die Arme. Denn finanziell gesehen steht die Elterngeneration bemerkenswert gut da: 84 Prozent der Generation 50plus kennen keine Geldsorgen. Geld ist also kaum das Problem. Und doch ist das Letzte, was den Muttis in den Sinn kommt, ihren Kindern ein eigenes Zimmer zu besorgen. Lieber füttern sie sie noch Jahrzehnte nach deren Geschlechtsreife durch. Es ist eben alles eine Frage der Prioritäten.
Da bezahlen sie lieber das Auto mit dem Aufkleber »Abi 2013«. Und es bleibt nicht bei einmaligen Geschenken: Laut der in der Zeitschrift brand eins im Januar 2011 veröffentlichten Zahl unterstützen 30 Prozent der Eltern ihre erwachsenen Kinder regelmäßig mit finanziellen Zuwendungen – es werden oft also auch die Versicherungsbeiträge und die Kfz-Steuer für das Auto noch jahrelang überwiesen. Mutti schenkt ihrem Twen auch gerne mal einen Urlaub, Klavierstunden oder Bares. Oder sie passt auf die Enkel auf, macht Besorgungen, kümmert sich um den Hund. Immerhin 3,5 Milliarden Stunden helfen die 60- bis 85-Jährigen in Deutschland jährlich im Haushalt ihrer Kinder. »Lass mal, das tue ich doch gerne für dich!«, heißt es dann.
Für dich? Auch die Mutti hat etwas davon, sie hat nämlich ihren Prinzen durch ihre Fürsorge so fest an sich gebunden, dass sie sich sicher sein kann: Ihr Kind wird sie nie wirklich verlassen. Auch wenn es formal bei den Eltern ausgezogen ist und ein eigenes Leben führt, vielleicht selbst eine Familie gründet, bleibt es durch fortdauernde Bemutterung und Geschenke emotional und finanziell abhängig. »Ich bezahle die Zahnspange meines Enkels, also kann ich auch erwarten, dass du den Job in der 100 Kilometer entfernten Stadt nicht annimmst.« So direkt muss Mutti es gar nicht ausdrücken, die implizite Erwartungshaltung ist immer spürbar. Der Anspruch, auch weiterhin über das Leben der Kinder bestimmen zu können und sie in kontrollierbarer Reichweite zu haben.
Muttis Liebe ist grenzenlos
Ein später Novembernachmittag. Monika holt ihren Lukas aus dem Kindergarten ab. Sie hat vormittags gearbeitet und nachmittags noch schnell den Haushalt erledigt und fürs Wochenende eingekauft. Sie ist ein paar Minuten zu früh
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