Mutti packt aus
verblassen. Wir nehmen Stoffbeutel mit und sammeln Zweige, Blätter und alte Kastanien, und nachher falten wir lustige Papiergestalten, die wir an die kahlen Zweige hängen, in der Küche an die Wand nageln und mit buntem Herbstlaub bekleben. Wir basteln uns einen Märchenwald! Wir nehmen Seile mit und klettern auf den schönen Kletterbaum im Park, wisst ihr noch, wie im letzten Jahr? Wie lustig das war, als Nick heruntergefallen war und Elise und Charlotte mit sich gerissen hat? Wie viel Spaß wir in der Notaufnahme hatten! Und dann hat jeder einen schicken Gipsverband gekriegt, obwohl nur Nick einen brauchte! Wir nehmen Brot mit und füttern die Enten am See, bis sie kotzen. Nein, wir laufen nicht soooo lange. Wisst ihr eigentlich, dass die Steinzeitmenschen jeden Tag 40 Kilometer gelaufen sind und das gar nicht anstrengend fanden? Was glaubt ihr denn, warum der liebe Gott uns allen gesunde Füße geschenkt hat? Und wenn wir nach Hause kommen, trinken wir einen schönen warmen Tee, und ich lese euch ein Märchen vor.
Nichts. Keiner hat sich gerührt. Die beinharten Verhandlungen um Ziel, Route und Dauer der Unternehmung, Teilnahmebedingungen und im Gegenzug zu gewährende Gratifikationen zogen sich stundenlang hin – verglichen damit sind die Gespräche zwischen dem Chef der Deutschen Bahn und dem obersten Lokführer der Republik harmloses Geplänkel. Am späten Nachmittag haben wir’s dann geschafft, in den Park zu kommen und spazieren zu gehen. Wir trafen auf viele andere Eltern, deren Kinder an Seilen von Bäumen herunterbaumelten, lustige Kastanien in kleine Beutel füllten und kotzende Enten mit Brotbröckchen bewarfen. Man schenkte sich hier und da ein wissendes Grinsen.
Was willst du mal werden?
»Ich werde mal den Nobelpreis für Menschengerechtigkeit kriegen«, versichert mir Charlotte mit dem gebotenen Ernst. »Was muss man dafür machen?« – »Jura studieren, mein Kind«, sage ich mit Bedacht. »Und vorher in der Schule super fleißig sein, keine Fünfen in Mathe schreiben, im Unterricht nicht quatschen, nie den Turnbeutel vergessen und niemals Geschwister hauen.« Skeptisch legt sie den Kopf schief. »Dann werde ich vielleicht doch was anderes!« Möglichkeiten gibt’s ja viele: Prinzessin, Verkäuferin und Tierärztin hatten wir schon. »Bestimmerin von allem« hält sich hartnäckig und in allen Variationen.
Aus Sorge, etwas zu versäumen, und angefeuert von dem Wunsch, alles richtig zu machen, habe ich noch keinem kindlichen Berufswunsch erwachsene Bedenken in den Weg gelegt und war immer nach bester Mutterart begeistert, wenn die Kinder schon früh an später dachten. Kann sich heutzutage etwa nicht glücklich schätzen, wer beizeiten eine Vorstellung von seinem Traumberuf hat?
Also habe ich Astronaut, Rennfahrer, Delfinwärter und Erfinder herzlich willkommen geheißen und weder bei der Puppenmutti noch der Zirkusartistin merklich gezuckt und auch die künftige Bundeskanzlerin nicht grundsätzlich in Abrede gestellt. Im Gegenteil: Schichtete einer der Jungs seine Bauklötzchen apart zu Türmen aufeinander, sah ich gleich den kommenden Stararchitekten seinen genialen Schatten vorauswerfen. Verrührte er emsig Sand mit Blättern, war ich bereit, dem Gourmet-Koch zu applaudieren. Spielte eine Tochter mit drei Rosinen Vater, Mutter, Kind, spendete ich auch hier noch scheinheilig Beifallsgemurmle. Schwenkte die andere die Hüften vorm Spiegel, blieb ich der Tänzerin den Applaus nicht schuldig. Auch sparte die Verwandtschaft nie mit ambitionierten Voraussagen. »Sie wird mal ’ne Rockröhre«, unkte der Opa angesichts des ohrenbetäubenden Schreikrampfes, in den sich mein Baby gerne hineinsteigerte. »Eher Frauenbeauftragte auf Zypern«, kommentierte die Oma eine Zeit später die beeindruckenden Wutanfälle ihrer Enkelin.
Doch damit es nicht so ausgeht, dass ich eines Tages vor einer Zehntklässlerin stehe, die sich abends zur Thronfolgerin weiterbilden will, oder ihr älterer Bruder vielleicht noch im besten Mannesalter vom Lokführer auf der Insel mit zwei Bergen spintisiert, hätte ich einfach früher gezielt fördern müssen. Sie haben nämlich immer noch keinen genauen Plan. Weil sie schon in der Wiege das Studium von Englischwörterbüchern für Säuglinge verweigerten, später lieber einfach so rumspielten als den Crash-Kurs in Kanton oder wenigstens Mandarin zu besuchen und die sachdienliche Lektüre von Werken wie »Alles über Piraten. Ausbildungswege, Anfangsgehälter,
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