Mutti packt aus
Ziment gemacht.« Der jüngste Onkel erstickt sein Grinsen im Taschentuch, andere Trauergäste nesteln hingebungsvoll an ihren Knöpfen herum, streichen ihren Scheitel glatt oder wenden sich ab, um den Blumenschmuck der Nachbargräber eingehend zu betrachten. Der Vater meiner beiden kleinen Mädchen konzentriert seinen Blick hingebungsvoll auf einen Punkt in den Baumwipfeln. Später, viel später, wenn sich dieser peinliche Vorfall zur Familienanekdote geläutert hat, werden sie vielleicht alle darüber lachen. Mir jedenfalls blieb das Lachen im Halse stecken, als sie sich alle vier auf der Heimfahrt auf den Rücksitzen wie die Kesselflicker stritten, was auf meinem Grabstein mal draufstehen soll. Zwecklos. Ich werde einmal vier Grabsteine haben, darauf haben sie sich dann geeinigt. Ich mische mich da nicht mehr ein – und hoffe nur still, dass sie noch viel Zeit haben, sich auf einen einzigen zu verständigen und in der Zwischenzeit nicht mehr darüber reden.
Kulturschock
Stumm betrachtet Lina, Übernachtungsgast und aktuell beste Freundin von Elise, am Morgen die Familie beim Frühstück: Leander isst seinen Joghurt mit den Fingern. Er hält ihn auf Armeslänge hoch über seinen aufgesperrten Mund. In breiten Fladen tropft Erdbeerjoghurt auf seine Zunge, das meiste landet daneben. Charlotte hat es sich bequem gemacht, ein Bein liegt auf dem Tisch, das andere hat sie auf den Stuhl hochgezogen. Sie knibbelt an ihren Zehen, betrachtet eingehend, was sie dort findet, und schnipst das dann mit den Fingern weg. »Los, gib her!«, schnauzt sie quer über den Tisch ihren großen Bruder an. Der schlürft genüsslich seine Milch, es klingt wie ein durstiger Gully. Dann macht er Anstalten, die Butterdose zu Charlotte hinüberzuwerfen. Jetzt drehen sie alle so richtig auf. Bestürzt schaut Lina mich an. Ich habe den Mund gerade ziemlich voll, als ich mich freundlich erkundige, ob sie denn auch gut geschlafen habe. Lina wischt sich übers Gesicht. Was aussieht wie der Untergang des Abendlandes oder jedenfalls das Ende der Zivilisation, scheint einmal mehr mein erzieherisches Versagen zu offenbaren. Und ist doch nur die schlaueste aller Kriegslisten, die ich mir von Clausewitz, dem Feldherrn, abgeguckt habe: Wen man nicht besiegen kann, den muss man umarmen.
Nun umarme ich einmal in der Woche den Barbaren, der in jedem Kind steckt. »Heute ist Schweinetag«, erläutert Nick und schickt einen krachenden Rülpser hinterher. »Ja, da darf man essen, wie man will«, ruft Leander, »Du auch! Auch Gäste!« Charlotte trumpft auf: »Auch Spaghetti und Soße darf man mit den Fingern essen!« Lina findet das ziemlich ekelhaft. »Iiiieh, das sieht ja aus!«, ruft sie, als Nick seine Müslischale an den Mund setzt, sich dabei mächtig übertrieben verschluckt und, während er nach Luft ringt, wild um sich spuckt. Sie guckt angewidert von einem zum anderen, bevor sie sich ihr Brötchen schmiert. Dann steckt sie aber doch genüsslich ihr Messer mit der überflüssigen Nussnugatcreme dran in den Mund.
Ich finde Tischmanieren übrigens ungeheuer wichtig. Halte lebhafte Vorträge über die Vorzüge guten Benehmens, bin nie um lehrreiche Bemerkungen über die Bedeutung bekömmlicher Umgangsformen verlegen. Ja, gut. Erst gestern habe ich etwas von Sauhaufen gebrüllt, aber einem Blinden würde ich mich trotzdem als Mutter beschreiben, die gemeinsame Mahlzeiten schätzt, die nicht nur dem Hunger des Bauches, sondern auch dem des Herzens dienen. Familiäres Miteinander mit Anstand stellt sich ja nicht ein, wo sich jeder im Vorübergehen tiefgefrorene Cholesterinklumpen in die Mikrowelle schiebt. Aber einem Blinden bliebe ja auch der Anblick erspart: Meine Tischgenossen hängen wie nasse Säcke auf ihren Stühlen, drehen die Gabel klirrend im Mund herum und glauben, ein Messer sei dazu da, Kerben in die Tischplatte zu ritzen. Aus ihren Mündern entweichen beim Sprechen halb gekaute Bröckchen. Den Sound dazu kann allerdings auch ein Blinder hören. Wenn ich mir selber auf die Nerven gehe, weil ich schon wieder ein Referat über Tischmanieren halte, habe ich doch nur das traurige Schicksal der Unglücklichen vor Augen, die keine haben. Kleine Menschen müssen lernen, sich akzeptabel zu verhalten, andere Leute nicht zu ärgern und nicht in Verlegenheit zu bringen. Besser ihr hört das von mir als von anderen – diesen Satz sehnen sie herbei, denn er ist der Schluss meines Plädoyers.
Inzwischen gehe ich die Sache locker an. Damit unsere
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