Mutti packt aus
Auto, geht’s zu, als hätte ich eine Horde Schimpansen auf dem Rücksitz geladen. Jeder weiß besser, wie die im Baumarkt herausfinden, wer der beste Verkäufer ist. »Wer am meisten schleimt«, höhnt der Große und wirft einen vernichtenden Blick auf seinen Bruder. »Wer am besten aussieht«, mutmaßt die Große und zückt ihren Taschenspiegel, zieht die Lippen nach, prüft den Lack auf den Nägeln und schaut bemüht unbeteiligt aus dem Fenster. »Wer am meisten arbeitet und dafür kein Geld will«, glaubt die Kleine. »Wer viel netter ist als die anderen«, weiß der Jüngste und sucht im Rückspiegel meinen Blick.
Als ich aussteigen will, kapiere ich’s endlich.
Der Große flitzt um das Auto herum und reißt die Tür für mich auf. Seine Schwestern zerren den Farbeimer aus dem Kofferraum, der Kleine schleppt die Tapeten und setz t sich an die Spitze der Prozession. »Ruh dich ruhig ein bisschen aus!«, ruft er fröhlich. »Soll ich dir von selbst ei nen Kaffee kochen?«, wispert die Kleine im Treppenhaus. Sie drängt sich an mich und stellt dem Tapetenträger ein Bein. »Ich habe übrigens vorhin schon die Wäsche aufgehängt!«, fällt die Große in die Schlacht ein und stößt ihrer Schwester den Ellbogen in den Bauch. Aha, denke ich, als ich kurze Zeit später von der freundlich dargereichten Kaffeetasse nippe.
Seither herrscht (meistens) Frieden im Land. Und wann immer sich doch ein Scharmützel anbahnt, ein Grabenkrieg auszubrechen droht oder ein Hinterhalt lauert, interveniere ich schön paradox und belebe die Konkurrenz im Geschäft. Ich verblüffe meine Lieben mit schlichten Behauptungen, für die ich dereinst im Mutter-Kind-Abteil des ICEs auf dem Weg zur Hölle schmoren werde. Egal. »Charlotte ist mein Lieblingskind, weil sie Fisch isst«, verkünde ich und behaupte zehn Minuten später dasselbe von Leander. Er ist mein Lieblingskind, weil er die Wäsche aufgehängt hat. »Willst du heute mal mein Lieblingskind sein?«, frage ich listig und deute auf den Berg schmutzigen Geschirrs, der neben der Spüle aufragt. »Die Birne im Flur ist kaputt«, murmle ich versonnen. »Wer die heute ersetzt, könnte morgen mein Lieblingskind sein«, setze ich verträumt hinzu. Drei tippen sich an die Stirn, der vierte rast los. Eine halbe Stunde später ist der Flur wieder hell. Wunderbar! Es ist ja noch kein Schleimer vom Himmel gefallen, das muss man tüchtig üben! Deshalb hängt jetzt in der Küche jede Woche ein anderes Porträt mit dem »Kind des Monats«, darunter die Glückwünsche der Geschäftsleitung und lebhafte Beifallsbekundungen der Belegschaft. Sollte die Bundesregierung mal wieder einen Preis für ein familienfreundliches Unternehmen ausloben – wir sind bereit.
White lies
»Guck mal, der Mann da hat ja einen Busen!«, ruft mein Jüngster entzückt. Sein Zeigefinger pickt erbarmungslos in Richtung des schwitzenden, korpulenten Herrn auf der Bank gegenüber, der mir einen mit Todesverachtung getränkten Blick zuwirft. »Schschscht«, entfährt es mir, doch was einmal in Fahrt gekommen ist, lässt sich nur schwer bremsen. »Stimmt doch! Guck doch mal!« zerlöchert die aufgeregte Kinderstimme hemmungslos das feine Textil zwischenmenschlichen Miteinanders. Seine Schwester runzelt die Stirn, dann drängen die Früchte angestrengten Nachdenkens ins Freie. »Aber Mama, Männer haben doch gar keinen Busen, oder?« Ich betrachte konzentriert meine Schuhspitzen und halte die Luft an, während sich die Minuten zum nächsten U-Bahn-Halt dehnen wie ein böses Jahr. Das öffentliche Verkehrswesen ist der staubige, dicht bevölkerte Exerzierplatz für gutes Benehmen – Erziehungsversagen wird augenblicklich mit öffentlichem waterboarding bestraft. Vor Augen und Ohren der Mitreisenden kann die Mutter im Drill täglich das Fremdschämen üben und später zu Hause als verantwortungsbewusste Erzieherin Lektionen erteilen. Ich würde alles dafür geben, in einer Gegend zu wohnen, wo es keine Busse und Bahnen gibt. Dann könnte ich überall mit dem Auto hinfahren, und niemand würde merken, wie hemmungslos meine Kinder kommentieren, was ihnen so begegnet.
Nicht, dass ich all meinen Ehrgeiz in das Bestreben legen würde, den Nachwuchs zum Aushängeschild für meine eigene Untadeligkeit machen zu wollen. Gut, vielleicht habe ich schon mal ein Kind in Hörweite des Kellners extralaut er mahnt, Messer und Gabel zu benutzen, damit es nicht aussieht, als hätten sie zu Hause nur eine Spielecke und keine Kinderstube.
Weitere Kostenlose Bücher