My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
„Offensichtlich glauben Sie, ich würde uns beide in eine verfängliche Situation bringen, wenn ich mit Ihnen tanze oder Ihnen aufs Pferd helfe.“
Viel zu spät fiel ihr auf, daß sie sich in seinen Augen ausgesprochen töricht benahm. Verstimmt riß sie ihm die Zügel aus der Hand. Der Ruck verstörte den Rotfuchs. Das sonst so ruhige Tier bäumte sich auf; sie verlor die Zügel und sah den Wallach schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, über die Heide davonpreschen.
„Oh, verdammt!“ fluchte Tom, schwang sich auf den Grauschimmel und hetzte dem Rotfuchs nach. „Bleiben Sie, wo Sie sind, Madam!“ rief er ihr über die Schulter zu und setzte die Füße in die Steigbügel. „Rühren Sie sich nicht vom Fleck!“
Im Nu hatte der Nebel ihn verschlungen. Olivia fand, er hatte gut reden. Sie war nicht willens, wie eine Statue auf dem Fels auszuharren, sprang herunter und ging unruhig auf und ab. Sie kam sich ungemein dumm vor und war sich bewußt, daß sie durch ihr Mißtrauen, das ihr nun altjüngferlich und restlos überflüssig erschien, Mr. Brooke genötigt hatte, ihr beizustehen.
Der Nebel verdichtete sich auf erschreckende Weise. Grauweiße Schleier wallten über das Moor und verhüllten die Landschaft. Bald war gar nichts mehr zu erkennen, nicht einmal die Felsbrocken, an denen Olivia sich orientiert hatte. Sie konnte kaum noch die Hand vor den Augen sehen, stolperte in die Richtung, die sie gekommen zu sein meinte, und fand die Steine nicht mehr. Wahrscheinlich war sie in viel zu großem Abstand an ihnen vorbeigelaufen. Vielleicht hatte sie sich auch in der Richtung geirrt?
Sie horchte, doch kein Laut war zu vernehmen. Nun begriff sie, warum Mr.
Brooke ihr befohlen hatte, sich nicht vom Fleck zu rühren. Selbst wenn er zu den Felsen zurückfand, war sie nicht da, weil sie seiner Anweisung nicht gehorcht hatte. Sie hatte sich im Moor verirrt und würde wohl die ganze Nacht in dieser Einsamkeit verbringen müssen.
Sie bekämpfte die aufsteigende Angst und sagte sich, daß ihr nichts Schreckliches passieren könne, vorausgesetzt, sie behielt die Ruhe und widerstand der Versuchung, in der Gegend herumzuwandern und womöglich in ein Loch zu stürzen. Sie hatte sich bereits sehr unklug verhalten und durfte ihre Lage nicht noch verschlimmern. Sie setzte sich ins Gras, schlang die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten, und versuchte, nicht daran zu denken, wie kalt es nachts um drei Uhr im Moor sein würde.
Nach einigen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde ihre Einsicht belohnt. Sie vernahm Hufschlag und Mr. Brookes rufende Stimme.
„Wo sind Sie, Miss Fenimore?“ schrie Tom in den wabernden Nebel. „Können Sie mich hören?“
„Ich bin hier!“ antwortete sie laut. „Hier drüben!“ Immer wieder rief sie, bis sie Schatten aus dem Dunst auftauchen sah. Mr. Brooke ritt den Grauschimmel und führte den Rotfuchs am Zügel.
„Warum, zum Teufel, sind Sie nicht bei den Felsen geblieben?“ herrschte er Miss Fenimore zornig an.
„Es tut mir leid. Ich wollte mir nur die Beine vertreten.“
„Das hätten Sie nicht tun dürfen! Sie scheinen nicht zu wissen, in welche Gefahr Sie sich gebracht haben! So, und nun sitzen Sie auf, und diesmal lassen Sie die Sperenzchen!“ Tom schwang sich vom Hengst und hob Miss Fenimore mit starkem Griff in den Sattel des Rotfuchses.
Die Art, wie er sie anfaßte, konnte man nicht zärtlich nennen und erinnerte sie daran, wie der Vater sie hochgehoben hatte, wenn sie entgegen seinem Befehl als Kind über einen Graben gesprungen und vom Pony gestürzt war. Im allgemeinen hatte er ihr dann einen Klaps auf das Hinterteil gegeben, und sie wäre nicht erstaunt gewesen, hätte Mr. Brooke das gleiche getan. Sie war sicher, daß er das Bedürfnis dazu verspürte.
„Und nun folgen Sie mir!“ befahl er. „Sobald wir auf der Straße sind, gelangen wir sicher nach Parmouth.“ Er fand sie ohne größere Mühe und hielt sich nach links.
„Woher wissen wir, welche Richtung wir einzuschlagen haben?“ wunderte sich Olivia.
„Ich folge dem Geräusch des Meeres. Die Brandung ist dort drüben.“ Olivia lauschte angestrengt und hörte ein leises Rauschen, das ihr bislang nicht aufgefallen war. „Daran hätte ich nie gedacht“, gestand sie kleinlaut.
„Ich kenne das Moor seit Kindertagen, weil ich oft hier bei meiner Großmutter war.“
Eine Weile ritt Olivia schweigend neben Mr. Brooke her, überwand dann die Verlegenheit und murmelte
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