My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
übertrieb jedoch etwas, um den jüngeren Damen und Mädchen Gelegenheit zu geben, einen Tanzpartner zu finden. Sie fühlte sich nicht im mindesten großherzig, denn es gab ohnehin niemanden, mit dem sie in diesem Saal, wo sie früher so glücklich gewesen war, hätte tanzen wollen.
„Diese monatlichen Feste bergen eine gewisse Gefahr“, meinte Alice Osgood. „In einem so kleinen gesellschaftlichen Rahmen kann es schnell passieren, daß junge Leute höchst unpassende Bekanntschaften schließen. Ich habe es mir zur Regel gemacht, Madeleine bei einem Ball nie zweimal mit demselben Gentleman tanzen zu lassen. Vielleicht bin ich rückständig, aber man kann nie vorsichtig genug sein“, fügte sie mit dem selbstgefälligen Lächeln eines Menschen hinzu, der genau wußte, daß er recht hatte.
Olivia blickte zu den Paaren hinüber und sah Miss Osgood graziös mit Mr. Cottle, dem Sohn des Vikars, tanzen. Er schaute sie hingebungsvoll an, und sie schien seine Verehrung zu genießen. „Ein so hübsches Mädchen wie Miss Madeleine hat bestimmt mehr Anwärter auf einen Tanz mit ihr, als sie akzeptieren kann“, sagte Olivia lächelnd.
„Wie reizend von Ihnen!“ erwiderte Alice. „Ja, sie wird sehr umschwärmt. Aber sie weiß genau, was gestattet oder verboten ist, und hält sich daran.“ Im gleichen Moment bemerkte Olivia einen hochgewachsenen blondhaarigen Jüngling, der den Saal betreten hatte, und meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Dann erschien Mrs. Channings Sohn, und sie wußte, um wen es sich bei dem ersten Burschen handelte. Es war Lionel Forester. Hinter den beiden jungen Herren kam Thomas Brooke herein, und sie fühlte, daß ihr das Herz schneller schlug. Sie ärgerte sich darüber, denn Mr. Brooke bedeutete ihr nun nichts mehr.
Aber die Situation war peinlich.
Die Herren näherten sich und begrüßten die Damen.
Olivia erfuhr, daß Mr. Forester am selben Abend in Parmouth eingetroffen war, vom Ball gehört und sofort beschlossen hatte, daran teilzunehmen. Er mußte jedoch erst warten, bis seine Sachen ausgepackt waren, und deshalb waren die Gentlemen verspätet gekommen.
Lionel entsann sich, daß er Miss Fenimore bereits einmal begegnet war, und bat sie um den nächsten Tanz.
Natürlich mußte sie aufgrund des verstauchten Fußknöchels ablehnen, da Mrs.
Osgood neben ihr saß und sich sonst gewundert hätte. Es verstimmte sie indes, daß Mr. Brooke ungläubig und spöttisch lächelte. Offenbar nahm er an, sie wolle vermeiden, mit ihm zu tanzen, und habe daher Mr. Forester die Bitte abgeschlagen. Sie erinnerte sich, wie linkisch sie ihm beim Ball des Kricketclubs einen Korb gegeben und wie er darauf reagiert hatte, und ihr Unbehagen wuchs.
Inzwischen war Mr. Forester Miss Osgood vorgestellt worden. Er schaute sie mit einem Blick an, als könne er seinem Glück nicht trauen, ersuchte sie um die Ehre, mit ihm zu tanzen, und geleitete sie auf das Parkett.
Voller Stolz sah Alice ihnen nach.
Flora wurde von Mr. Channing aufgefordert und begleitete ihn zum Tanz.
Nachdenklich blieb Tom einige Schritte vor Miss Fenimore stehen und sagte nach einer Weile: „Es tut mir leid, Madam, daß Sie sich den Fuß verknackst haben. Ich weiß, wie gern Sie tanzen.“
Seine Stimme hatte keinen ironischen Unterton enthalten, sondern nur höflich geklungen. „Ich muß mich mit dem kleinen Mißgeschick abfinden, Sir“, erwiderte Olivia kühl.
„Oh, das gelingt Ihnen bestimmt. Sie sind ein Muster an Selbstdisziplin, Madam!“
„Bleibt Mr. Forester länger in Parmouth?“ wollte Alice wissen.
„Das hängt von den Umständen ab“, antwortete Tom achselzuckend. „Er will in die Armee eintreten. Ich hoffe, ich kann ihm durch General Durnford, mit dem ich befreundet bin, ein gutes Regiment verschaffen.“ Tom beobachtete die Tänzer noch ein Weilchen, verabschiedete sich dann von den Damen und schlenderte in den Billardsalon.
Nachts, als Olivia im Bett lag, gab sie den Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, nach, schluchzte herzerweichend und barg das feuchte Gesicht im Kissen, damit die im Nebenzimmer schlafende Cousine sie nicht hörte.
Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Sie liebte Thomas Brooke noch immer. Es war beschämend und tat weh, wie eine Krankheit, die niemand lindern konnte. Die herrlichen Minuten am Strand hatten ihr einen Vorgeschmack darauf gegeben, was tief empfundene Leidenschaft sein konnte. Zum ersten Male begriff sie, warum ein verliebtes Mädchen mit irgendeinem
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