MyLady Weihnachtsband 2009 Band 18
sie zu ihm sagen sollte, nun da sie diese Grenze überschritten hatten.
Eine anständige junge Dame hätte sich über einen derartigen Kuss entsetzen müssen. Eine anständige junge Dame hätte ihn weggestoßen und sich gegen seine unangemessenen Annäherungsversuche gewehrt. Eine anständige junge Dame hätte die unziemlichen und unangemessenen Freiheiten niemals genossen, die er sich ihr gegenüber herausgenommen hatte. Aber sie hatte jeden skandalösen Moment seiner Umarmung genossen.
„Julia, ich hätte nicht …“, flüsterte er, unterbrach sich aber, als seine Tante auf ihn zukam.
„Deine Schwester hat sich gut erholt von ihrem Anflug von …
von …“ Clarinda hielt inne, da sie offenbar nicht wusste, wie viel sie von Annas delikatem Zustand offenbaren durfte. „Sie hat mich gebeten, dich zu suchen.“
„Und Iain und ich haben Geschäftliches zu besprechen, daher werden wir dich nicht länger aufhalten“, fügte Robert galant hinzu. Er hielt die Tür weiter auf, damit Julia und Clarinda hinausgehen konnten.
Julia blieb nichts anderes übrig, als der Freundin ihrer Schwester nach draußen zu folgen. Obwohl sie nicht darüber hatten reden können, wusste sie auch ohne Worte, dass Iain von der Begegnung ebenso aufgewühlt war wie sie selbst. In seinen Augen hatte ein verwirrter Ausdruck gelegen, und seine Haltung war steif und unbehaglich gewesen, doch war das sicher nicht auf seine Verletzung zurückzuführen. Sein Körper hatte einfach auf ihren reagiert.
Ihre Schwester wäre sicher schockiert gewesen, zu hören, dass Julia wusste, was mit Iain passiert war, als er sie geküsst hatte. Schließlich hatte sie von den jungen Frauen in Annas Schule für gefallene Mädchen in Edinburgh einige Kommentare aufgeschnappt und genug die Fakten des Landlebens mitbekommen, während sie auf dem Gutshof der Mac Leries im schottischen Hochland zu Besuch weilte.
Er begehrte sie.
Obwohl so viele Jahre zwischen ihnen lagen. Obwohl er in diesen Jahren so schwere Prüfungen hatte durchstehen müssen. Obwohl er eigene Pläne für seine Zukunft hatte. Genau wie meine Schwester für meine, dachte Julia.
Er begehrte sie. Wie ein Mann eine Frau begehrte.
Ihr Verhältnis hatte sich gewandelt. Sie war nicht länger ein Kind, eine Nervensäge, ein Mädchen, das ihm zwischen den Füßen herumlief, ein Ärgernis, das ertragen werden musste. Sie war eine Frau, und er hatte das auch erkannt. Aber noch wichtiger war, dass sie es zum ersten Mal auch gespürt hatte.
Clarinda blieb stehen und sah sie an, und Julia verlor beinah all das Selbstvertrauen, das der Kuss ihr verliehen hatte. Ob Clarinda merkte, dass etwas an ihr anders war als sonst? Julia fühlte sich wegen des Kusses zwar nicht schuldig, aber konnte man es ihr ansehen?
Clarindas Worte und ihre Miene ließen keinen Zweifel. „Ich habe Anna doch gesagt, dass sie in diesem versteckten Winkel keinen Mistelzweig aufhängen soll!“
Julia konnte dem Drang nicht widerstehen, ihre Lippen zu berühren – gewiss hatten sie sie verraten, oder? Oder vielleicht die Röte in ihren Wangen – hatte Clarinda sie daran durchschaut? Julia sah noch einmal zur Bibliothek zurück und entdeckte zum ersten Mal die mit roten Bändern zusammengefassten Mistelzweige, die über Iains Kopf von der Decke hingen.
Robert schloss die Tür mit einem Nicken in ihre Richtung, und Julia wandte sich wieder zu Clarinda um.
„Komm jetzt, Julia. Anna wartet auf dich“, sagte sie und zog sie die Treppe hinauf zum Zimmer ihrer Schwester. Als sie den Treppenabsatz erreicht hatten, hielt Clarinda inne, um Julia das Haar zu richten, und zwinkerte ihr dann zu. „Denk dran, schieb es auf den Mistelzweig, wenn sie irgendwelche Fragen stellt.“
4. KAPITEL
Iain musste die Fähigkeit seines Onkels anerkennen, einfach abzuwarten und den offensichtlichen Verstoß gegen den Anstand zu ignorieren.
Seit dem Vormittag befassten sie sich mit Verwaltungsaufgaben, prüften Vorräte und Bestellungen, planten Erweiterungen des Gutsbesitzes im schottischen Hochland und des Hauses in Edinburgh und die Ausdehnung ihres Absatzmarktes in England und Wales. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters vor einem Jahr war Robert Mac Lerie der Laird des Mac Lerie-Clans samt aller Geschäfte geworden und hatte seitdem nicht mehr zurückgeblickt.
Aber nichts und niemand konnte ihn davon abbringen, sich seines Neffen anzunehmen – weder Iains gefährlicher Kutschenunfall noch dessen mangelnde Ausbildung in
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