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Myrddin

Myrddin

Titel: Myrddin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Saunders
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einem wunderheilenden Zaubertrank, der mich vor fünf Jahrhunderten als Hexer entlarvt hätte, da ich mit Teufelskunst Leiden von Menschen genommen hätte, ohne auch nur ein einziges, krächzendes Ave Maria zu faseln. So ist es auch mit dem Wurzelstock: er hat nicht die geringste Bedeutung, mein Guter. Er verleiht dir nur die Kraft, die du ohnehin in dir hast. Es ist kein Zauber … oder? Vielleicht diesmal doch …?“
    Hörn kannte solche Reden von Merlin, durch die er nicht bereit war, etwas seines Wissens preiszugeben, wie er meinte, und deshalb wollte Hörn lieber noch einmal über Britannien sprechen.
    „O ja, Hörn. Über welches …?“
    „Über das Britannien, in das wir reisen werden.“
    „… und das ich nicht mehr kenne. Die guten Geschichten …“
    „Nein, Merlin: die vielen Geschichten. Es waren gute und schlechte. Doch was meinst du, was geschehen wird, falls man dich erkennt?“
    „Glaubst du, man hat mir nicht verziehen? Hörn, die Menschen sind längst in ihren Gräbern – sie sind zu Inschriften ihrer Steine geworden. Wer sollte mich schon noch erkennen? Man wird sich über dich wundern. Aber man wundert sich doch nicht über einen alten, verrunzelten, bedürftigen Mann. Wenn es Städte mit hunderttausenden und mehr Menschen gibt, wird man sich doch nicht über einen senilen, verblödeten Alten Gedanken machen.“
    „Aber es kann Menschen geben, die die Geschichte kennen.“
    „Die Geschichte, Hörn? Welche Geschichte? Als sich die Affenfamilie teilte und die einen ins Wasser gingen, weiß wurden und Freunde in Delphinen fanden, weil sie ihnen die Haie vom Leib gehalten haben, von denen sie aber heute nicht mehr wissen wollen, weshalb diese großen Meeressäuger zu den Menschen so freundlich sind und wieso sie Augen haben, die die Weißen zu erkennen scheinen? Die Delphine haben ihre einstigen Spielgefährten nicht vergessen und wundern sich über das schadhafte Erinnerungsvermögen der Menschen, die ihren Ursprung zu kennen vermeinen. Also welche Geschichte, Hörn?“
    „Deine Geschichte, Merlin … an deine Spuren …“
    „… die über Jahrhunderte verwischt wurden? Die zu versponnenen Legenden verkommen sind, an die noch jemand glauben sollte? Nimm sie doch, die großen Schreiber, die das Gewesene ausradieren und kleine Heiligengeschichten daraus machen, den Machthabern zu Paß, die die Handlungen auf die neuen Wämser zuschneidern, damit der Stoff sitze und keine Falten schlage oder über dem Bauch straffe, oder dort, wo es diesen Herren am meisten kneifen würde – in ihrem Schritt – da man immer das Brot der Herren aß. Es liegt schon Ironie darin, sich das Mehl stehlen zu lassen, um dann das Brot kaufen zu müssen, findest du nicht? Und weißt du, was mich am meisten wundert: die Menschen sind blind genug, um dieses Spielchen mitzuspielen. Und sie lassen sich solange beuteln, bis sie sogar auf die Regeln schwören, die sie umbringen“, lachte Merlin laut. „Ich werde mich vor den Menschen in acht nehmen müssen. Aber meine Geschichte, Hörn, ist keine, weil sie keine hat. Ich bin nicht gewesen, weil ich nicht sein darf. Und du bist heute nur eine Ausgeburt ihrer heidnischen Phantasien, die auf einem uralten Fruchtbarkeitskult basieren, werden sie dir sagen und werden versuchen, dir dein Kostüm vom Fleisch zu reißen. Das ist die perverse Wirklichkeit derjenigen, die keine Geschichte haben. Sie sind die Lückenbüßer und werden nach Belieben in den Kulturen hin und her geschubst. Und gleichzeitig ist dies auch das lächerliche Los der Menschen, die ihre Vergangenheit vergessen haben. Was also haben wir wirklich zu befürchten?“
    Hörn versuchte, es mit den Augen Merlins zu sehen und erkannte die triste Wirklichkeit, zwischen die Zeiten gefallen zu sein, nicht mehr zu existieren und doch zu sein – nicht erkannt zu werden und doch erkennen zu können. Er sah die primitiven Regeln, denen sie sich verschrieben hatten, und er hatte den Eindruck von einer perfekten Inszenierung der Lebensillusion, in der die Menschen auf der Suche nach sich selbst scheinbaren Beistand haben würden, solange sie ihre sozialen Pflichten erfüllten.
    Ohne Geschichte zu sein, war für Hörn undenkbar. Es erschien ihm als Verrat, als raube man ihm sein Gedächtnis und erzählte ihm später, wer und was er gewesen sei, auf die Bedürfnisse desjenigen zugeschnitten, der einem das Gedächtnis genommen hatte.
    Hörn sah die traurige Gegenwart und begann Merlins Einsamkeit zu verstehen, die er mit

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