Myriams letzte Chance
S-Bahnhof West? Ich hab euch nämlich beobachtet.â
âFalls du es vergessen hast â der Kerl hat dir das Päckchen gegeben, das wir gerade in der Regenrinne gefunden habenâ, erinnerte Tori sie.
âDas war Harryâ, sagte Merle.
âUnd was hat er dir gegeben?â, fragte Viktor. âDrogen? Geld? Oder was?â
Merle schnaubte verächtlich. âIhr seid wirklich zu bescheuert. Mann, wir sind Emos, keine Kriminellen. Wir trinken vielleicht manchmal ein Bier, aber mit Drogen haben wir nichts zu tun.â
âKomm, du hast selbst in der Schule erzählt, dass du dir immer Pillen einwirfst, um gut drauf zu sein.â
âSo was erzähl ich nur, um SpieÃer wie euch zu schockierenâ, meinte Merle kalt. âIn dem Päckchen sind keine Drogen.â
âSondern?â
Anstatt zu antworten, riss Merle das Packpapier auf. Dann hielt sie einen Gegenstand hoch.
Tori leuchtete mit der Taschenlampe darauf. âEine Kette mit einem Totenkopfanhänger.â
âHä?â, fragte Viktor. âWas soll das denn?â
âDie ist für Dominikâ, sagte Merle. âWir haben zusammengelegt und Heiko hat sie gestern besorgt. Ich wollte sie ihm morgen vorbeibringen.â
âAch wie süÃâ, meinte Tori. âGibt es einen besonderen Anlass für das zauberhafte Präsent? Hat dein Schatz Geburtstag?â
âEr muss seinen Führerschein für ein Jahr abgeben!â, zischte Merle. âWir wollen ihn eben wieder aufbauen. Sonst noch Fragen? Ich hab langsam keinen Bock mehr, mich von euch löchern zu lassen.â
âEine Frage hätte ich schon nochâ, sagte Myriam. âWarum versteckst du die Kette in der Dachrinne? Habt ihr sie geklaut oder was?â
âIch sagte doch bereits â wir haben alle zusammengelegt. Aber wenn ich sie zu Hause lasse und mein Alter sie findet, ist sie sofort weg.â
âWie meinst du das? Was hat dein Vater denn für ein Problem damit?â
âGar keinesâ, gab Merle zurück. âDie Kette ist vergoldet und war ziemlich teuer. Mein Alter würde sie sofort verramschen und das Geld in Alk umsetzen.â
âIst das dein Ernst?â, fragte Tori verblüfft.
Merle stieà sich von dem Maschendrahtzaun ab und wollte ein Stück auf Tori zugehen, aber dann fielen ihr die Pferdehaare wieder ein und sie blieb stehen. âBei mir daheim ist das nicht so wie bei euch: Kind, hast du deine Hausaufgaben gemacht, was möchtest du zum Abendessen, hab ich dir dein Taschengeld schon gegeben? Mein Alter säuft und meine Mutter traut sich nicht, was dagegen zu sagen, weil er sie sonst verdrischt. Ihr denkt, ihr kennt mich, aber ihr habt keine Ahnung. Ãberhaupt keinen blassen Schimmer habt ihr!â Bei den letzten Worten brach ihre Stimme. Sie drehte sich abrupt um und rannte den Schotterweg zurück zum Ausgang.
âO Mannâ, flüsterte Tori, als ihre Schritte in der Dunkelheit verhallten. âWas für eine Story!â
âAlso, ich würd mal sagen, die Emos sind raus aus der Sacheâ, sagte Viktor. âMerle hat bestimmt nichts mit Charlies Entführung zu tun. Wir waren so was von auf dem Holzweg.â
âEine Pferdehaarallergieâ, meinte Tori. âWer hätte das gedacht? Mist. Jetzt stehen wir wieder am Anfang. Und ich fliege morgen mit meinen Eltern in Urlaub. Toll!â
âSei doch froh. Zumindest hast du mit dem Schlamassel hier nichts mehr zu tunâ, erklärte Viktor.
âArme Merleâ, flüsterte Myriam.
âSie hat Recht. Wir kennen sie kein bisschenâ, sagte Viktor nachdenklich. âIrgendwie fühl ich mich ziemlich mies.â
Myriam nickte. Tori schwieg. Nicht einmal ihr fiel dazu noch was ein.
Kribbeln im Bauch
âJuhu! Myriam, du alte Schlafmütze.â
Diesmal wurde Myriam nicht vom Telefon, sondern von der Stimme ihrer Mutter geweckt. Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber es ging nicht. Jemand musste ihr Bleigewichte auf die Lider gelegt haben.
âMeine Güte, wie sieht es hier überhaupt aus? Du wusstest doch, dass wir heute zurückkommen!â
Mit einer gewaltigen Anstrengung schaffte Myriam es zu blinzeln. Vor dem Bett stand ihre Mutter, dreckige Socken in der einen, eine halbvolle Müslischale in der anderen Hand. âDas ist ja ein schöner Empfang. Hättest du nicht ein bisschen aufräumen können?â
âLiegt
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