Myriams letzte Chance
sie noch im Bett?â Jetzt tauchte Myriams Vater im Türrahmen auf. âDa reist man um die halbe Welt und das Fräulein Tochter schafft es nicht einmal, sich rechtzeitig aus den Federn zu wälzen.â
Myriam starrte auf ihren Wecker. Kurz nach neun. Sie hatte den Alarm auf acht Uhr gestellt, weil sie sich fest vorgenommen hatte, die Wohnung einigermaÃen auf Vordermann zu bringen, bevor ihre Eltern nach Hause kamen. Aber nun waren sie da und Myriam hatte weder Staub gesaugt noch aufgeräumt. Und in der Küche schimmelte seit drei Tagen der Müll vor sich hin.
Warum hatte der verdammte Wecker nicht geklingelt? War er kaputt? Vage erinnerte sie sich, dass sie den Alarm ausgestellt hatte, als er sie vor einer Stunde aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie hatte sich nur noch einmal kurz umdrehen wollen und war offenbar sofort wieder eingeschlafen.
âTut mir leid.â Sie schob ihre nackten Beine aus dem Bett und gähnte.
âWahrscheinlich hast du wieder bis tief in die Nacht ferngesehenâ, sagte ihre Mutter tadelnd. âGanz blass bist du.â
âWie war denn dein Turnier am Sonntag?â, erkundigte sich ihr Vater. âWir haben mehrmals versucht, dich anzurufen, aber du gehst ja nicht ans Telefon.â
âWelches Turnier?â Myriam gähnte schon wieder.
âNa, dieses Vorreiten nach dem Workshop.â
âAch das. Ist ganz gut gelaufen.â
âWar die Trainerin zufrieden mit dir? Was sagt sie? Wie schätzt sie dich ein?â
âKeine Ahnung. Was soll das denn?â
âIch habe in den Staaten mit einem Kollegen gesprochen. Er meint, dass jetzt der ideale Zeitpunkt ist, eine Reitkarriere zu beginnen. Wenn du dich richtig ins Zeug legst und durchstartest â¦â
âPapa. Das Thema hatten wir schon. Ich reite kein Turnier mehr. Bestimmt nicht.â
Myriam schob sich an ihrem Vater vorbei und verschwand im Badezimmer, bevor er noch etwas erwidern konnte. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und lehnte sich gegen die Tür. Puh. War das anstrengend. Sie hatte weniger als fünf Stunden geschlafen und nun ging ihr ihr Vater mit seinen Zukunftsplänen auf die Nerven. Ob es um die Schule oder um Myriams Freizeit ging, er konnte es einfach nicht ertragen, wenn seine Tochter nicht immer und überall die Beste war. âStreng dich an. Mir ist in meinem Leben auch nichts geschenkt wordenâ, war der Grundsatz, den er ihr seit dem Kindergarten predigte.
Früher hatte Myriam das akzeptiert. Sie hatte sich angestrengt. Egal ob es um Mathe, Deutsch oder Musik ging, um den Flötenkurs, die Theateraufführung beim Schulfest oder um die Reitstunden. Sie wollte, dass ihr Vater stolz auf sie war, und ihr Vater war nur dann stolz auf sie, wenn sie die Beste war.
So einfach war das.
Aber seit dem Turnier vor ein paar Monaten hatte sich etwas geändert. Damals hatte sie plötzlich begriffen, dass es wichtigere Dinge gab als einen Einserschnitt im Zeugnis, als Pokale und Goldmedaillen und Auszeichnungen.
Freundschaft zum Beispiel. Oder das Vertrauen und die Geborgenheit, die Myriam auf der Sunshine Ranch fand. Das konnte sie ihrem Vater natürlich nicht sagen. Diese Art von Freunden nützt dir nichts, hätte er nur gespottet. Und Geborgenheit bringt dich auch nicht weiter.
Also schwieg sie verdrossen und dachte sich ihren Teil, wenn er ihr Vorträge über Zielstrebigkeit und Ehrgeiz hielt.
âMyriamâ, hörte sie seine Stimme durch die Tür, âwenn du sehen möchtest, was wir dir Schönes aus New York mitgebracht haben, dann solltest du schleunigst aus dem Bad kommen. Sonst geht das Geschenk nämlich an deine Schwester, die es bestimmt zu schätzen weiÃ.â
Ein elektronischer Terminplaner. Typisch für ihren Vater, dass er ihr einen Palm schenkte, wie ihn Manager benutzten. âDamit du dein Leben besser organisieren kannstâ, sagte er begeistert und zeigte ihr, wie man mit dem kleinen Computer Hausaufgabenlisten erstellen und Klassenarbeitspläne ausarbeiten konnte.
âSuperâ, meinte Myriam und unterdrückte ein Gähnen.
Ihr Vater überhörte den Sarkasmus in ihrer Stimme. Er griff nach seiner Kaffeetasse und leerte sie in einem Zug. âIch glaub, ich leg mich noch eine Runde aufs Ohr. Dieser Jetlag ist fürchterlich.â
âGute Idee.â Myriams Mutter lieà den Blick durch die Küche wandern. âWie wäre es, wenn du in der
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