Myriams letzte Chance
erfolgreich studierten. Und die kleine Myriam, die immer nur Einsen nach Hause brachte und niemals Unsinn machte. Wenn du wüsstest, dachte Myriam, während sie ihr Fahrrad aus der Garage holte. Deine vermeintlich so brave Tochter treibt sich nachts rum und bricht in Schrebergärten ein.
Warum lieà sie sich eigentlich auf so etwas ein? Sie musste den Verstand verloren haben. Daran konnte nur ihre Dauermüdigkeit schuld sein. Wenn ihre Gedanken sich nicht wie zäher Brei durch ihren Kopf gewälzt hätten, hätte sie bestimmt auf der Stelle kehrtgemacht und Tori und Viktor sitzen lassen. So aber radelte sie weiter bis zu dem halbrunden Tor, hinter dem die Kleingartenanlage begann.
Wo steckten die beiden anderen denn nun? War sie etwa die Erste?
âSchsch!â
Myriam sah sich erschrocken um.
âHier! Im Gebüsch!â, zischte Tori. Sie knipste ihre Taschenlampe an und leuchtete sich selbst ins Gesicht. Sie war von Kopf bis Fuà schwarz angezogen. Neben ihr stand Viktor, auch er war dunkel gekleidet und im Schatten der Sträucher und Hecken kaum zu erkennen. âDu bist viel zu spätâ, flüsterte Tori vorwurfsvoll.
âTut mir leidâ, sagte Myriam leise.
Tori wandte sich wortlos ab und huschte den schmalen Weg zwischen den Schrebergärten entlang. Auch Viktor knipste seine Taschenlampe an. âHast du kein Licht dabei?â, fragte er Myriam.
âVergessen.â
âNa super.â
âWo ist denn jetzt dieser Garten?â, fragte Tori von vorn.
Myriam spähte angestrengt in die Dunkelheit.
âIch glaube, es war hierâ, meinte sie nach einer Weile.
âHier?â Tori deutete mit ihrer Taschenlampe auf ein kleines Holzhaus.
âIch glaube schon.â Obwohl ⦠gestern Nacht hatte sie keine Lampe gehabt. Sie hatte das Haus so gut wie gar nicht erkennen können. War das Dach wirklich so furchtbar schief gewesen? Vielleicht war das nicht das richtige Grundstück.
Tori zögerte einen Moment lang. Viktor trat nervös von einem Fuà auf den anderen.
âAlso, vielleicht sollten wir lieber â¦â, murmelte er.
âQuatsch!â Tori war bereits über das niedrige Gartentor geklettert. âDu hältst Wache, Myriam. Komm, Viktor, worauf wartest du noch?â
Ein paar Augenblicke später stand Viktor neben ihr auf dem mit dunklem Rindenmulch bedeckten Gartenweg.
âHalt, Moment mal!â, rief Myriam.
âWas?â, zischte Tori genervt.
âIch hab mich getäuschtâ, wisperte Myriam. âEs war ein Kiesweg.â
âWie bitte?â
âIn Merles Garten gab es einen Kiesweg. Ihr seid auf dem falschen Grundstück.â
âDas gibtâs doch nicht!â Tori kletterte wieder zurück. âKannst du dich bitte mal konzentrieren? Wir sind nicht zum Vergnügen hier!â
Myriam schloss die Augen. Ihr war plötzlich schwindlig. Sie war müde und gleichzeitig hatte sie Angst, dass jemand auftauchen könnte und sie erwischte.
âKomm, Myriam. Reià dich zusammen!â, flüsterte Viktor.
Also gut. Das Gartentörchen war niedrig gewesen, genau wie das, vor dem sie standen. Dahinter hatte ein Kiesweg zum Haus geführt. Und auf dem Rasen neben dem Weg â¦
â⦠auf dem Rasen saà ein Haseâ, wisperte Myriam. âJetzt erinnere ich mich wieder daran.â
âEin Hase?â, fragte Tori entgeistert. âSag mal, hast du sie noch alle?â
âAus Gips. Ein Hase aus Gips.â
âNa, das müsste doch zu finden seinâ, sagte Viktor.
Es war auch zu finden. Allerdings erst, nachdem sie eine halbe Stunde durch die Kleingartenanlage getigert waren und selbst Tori kurz davor war, das Vorhaben aufzugeben.
âHier ist der Hase!â, rief Viktor endlich und zeigte auf das Gipstier, das wie ein weiÃer Fleck im Dunkel eines Gartens schwebte.
âAber diesen Weg sind wir bestimmt schon dreimal abgegangenâ, meinte Tori entgeistert.
âEgalâ, sagte Viktor. âLass uns da rein und dann so schnell wie möglich abhauen. Ich bin fix und fertig.â
Diesmal kletterte er als Erster über den Zaun, Tori folgte ihm und Myriam hielt drauÃen Wache.
Sie musste im Stehen eingeschlafen sein. Das war die einzige Erklärung dafür, dass sie Merle weder sah noch hörte, bis diese fast mit ihr zusammenprallte.
âHa!â, kreischte Merle erschrocken und sprang im letzten Moment
Weitere Kostenlose Bücher