Myron Bolitar 03 - Der Insider
das Haar. Der Lippenstift bildete einen rotverschmierten Fleck. Cyndi sah aus, als wäre sie direkt der Rocky Horror Picture Show entstiegen. Sie war der furchterregendste Anblick, den Myron je zu Gesicht bekommen hatte.
»Hi Cyndi«, sagte Myron zaghaft.
Cyndi knurrte bloß. Sie streckte ihren Mittelfinger aus, drehte sich um, schritt wieder durch die Tür und schloss sie hinter sich.
»Was zum ...«
»Du sollst das Gespräch auf Leitung eins annehmen«, sagte Esperanza.
»Cyndi macht Telefondienst?«
»Ja.«
»Aber sie spricht doch nicht.«
»Nicht von Angesicht zu Angesicht. Am Telefon ist sie sehr gut.«
»Herr im Himmel.«
»Hör auf zu jammern, und geh ran.«
Myron gehorchte. Es war Lisa, ihre Kontaktperson bei New York Bell. Die meisten Leute glaubten, dass nur die Polizei an Telefondaten rankam. Das stimmte nicht. Beinahe jeder Detektiv im Land hatte Kontakte zu seiner lokalen Telefongesellschaft. Es hing nur davon ab, wie viel man jemandem zahlte. Die Verbindungsdaten für einen Monat konnten zwischen tausend und fünftausend Dollar kosten. Myron und Win hatten Lisa kennen gelernt, als sie fürs FBI gearbeitet hatten. Sie nahm kein Geld, aber Myron und Win revanchierten sich anderweitig.
»Win hat mich um ein paar Daten gebeten«, sagte Lisa.
»Schieß los.«
»Der Anruf um einundzwanzig Uhr achtzehn kam von der Telefonzelle in einem Restaurant Ecke Dyckman Street und Broadway«, sagte sie.
»Das ist doch irgendwo da oben in der Nähe der 200th Street, oder?«
»Ich glaub schon. Soll ich dir die Telefonnummer geben?«
Carla hatte Greg von einem Restaurant in der 200th Street angerufen? Das wurde ja immer seltsamer. »Wenn du sie hast.«
Sie gab sie ihm. »Ich hoffe, das hilft euch weiter.«
»Bestimmt, Lisa. Danke.« Er hielt den Zettel Esperanza vor die Nase. »Guck mal, was ich hier habe«, sagte er. »Einen richtigen echten Hinweis.«
11
Das Parkview Diner wurde seinem Namen vollauf gerecht. Man konnte den Lieutenant William Tighe Park auf der anderen Straßenseite tatsächlich sehen. Er war kleiner als ein durchschnittlicher Hinterhof, und die Sträucher waren so hoch gewachsen, dass sie den Blick auf den Landschaftsgarten dahinter praktisch völlig versperrten. Ein Maschendrahtzaun umschloss das Grundstück. Am Zaun hingen mehrere Schilder, auf denen stand: RATTEN FÜTTERN VERBOTEN! Das war kein Witz. Die Warnung wurde in kleiner Schrift auf Spanisch wiederholt: No Des Comida a Las Ratas. Eine Vereinigung, die sich Quality of Life Zone nannte, hatte die Schilder aufgehängt. Myron schüttelte den Kopf. Das gab es nur in New York City - Menschen, die der Verlockung nicht widerstehen konnten, Ungeziefer zu füttern. Myron betrachtete das Schild noch einmal und dann das Restaurant. Ratten. Echt appetitanregend.
Er überquerte die Straße. Zwei Stockwerke über dem Parkview Diner hatte ein Hund seinen Kopf durch das Gitter einer Feuerleiter gezwängt und bellte die unten vorbeigehenden Passanten an. Die grüne Markise des Parkview hatte ein paar lange Risse. Die Buchstaben darauf waren so ausgebleicht, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Außerdem war der untere Träger verbogen, so dass Myron sich auf dem Weg zur Eingangstür ducken musste. Im Fenster hing das Bild einer Gyros-Pita. Die Tafel im gleichen Fenster empfahl Aubergine Parmigiana und Chicken a la King. Als Suppe gab es Consomme vom Rind. An der Tür hingen Genehmigungen des City ofNew York Department of Buildings wie TÜV-Plaketten an einem Auto.
Myron trat ein und wurde sofort von dem vertrauten wenn auch unspezifischen Geruch eines typischen New Yorker Diners empfangen. Die Luft war so sehr mit Fett geschwängert, dass man förmlich spürte, wie die Arterien verstopften, wenn man einmal tief durchatmete. Eine blondierte Kellnerin führte ihn zu einem Tisch. Myron fragte nach dem Geschäftsführer. Sie deutete mit dem Stift über die Schulter auf den Mann hinter der Theke.
»Das ist Hector«, sagte sie. »Ihm gehört der Laden.«
Myron bedankte sich und steuerte auf einen der verchromten Barhocker am Tresen zu. Er spielte mit dem Gedanken, sich mit einer Drehbewegung auf den Sitz zu schleudern, kam aber zu dem Schluss, dass das kindisch wirken könnte. Zwei Plätze zu seiner Rechten saß ein unrasierter, vielleicht obdachloser Mann mit schwarzen Thom-Mcan-Turnschuhen und einem abgeschabten Mantel. Er nickte Myron lächelnd zu. Myron nickte lächelnd zurück. Der Mann beugte sich wieder über seinen Kaffee. Er zog
Weitere Kostenlose Bücher