MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
Jessie einmal abgesehen, doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr auf einem Pferd gesessen!
Wie aus heiterem Himmel kam Niko ein Ausspruch von Opa Melchior in den Sinn: »Was Hänschen gelernt hat, verlernt Hans nimmermehr!« Ein scharfer Stich des Schmerzes durchfuhr ihn. Wann würde er seine Welt wiedersehen können? Seinen Opa und seine Mutter, Jessie, den Ellerhof und selbst das langweilige Oberrödenbach - einfach alles, was seine Familie und sein Zuhause war. Wie viel hätte er dafür gegeben, um augenblicklich dorthin zurückkehren zu dürfen! Konnte er es je?
Ein bitterer Gedanke stieg in ihm auf: Warum ich? Warum musste ausgerechnet mich ein solches Schicksal treffen?
Niko schluckte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, bevor jemand sehen konnte, dass sie feucht waren. Fast war er erleichtert, als Ayani ihn ansprach und ihn auf andere Gedanken brachte.
»Jetzt verstehe ich auch, wie der Donnerfelsen zu seinem Namen gekommen ist«, schrie sie ihm zu. Obwohl Ayani nicht weiter als eine Pferdelänge von ihm entfernt war, hatte sie größte Mühe, das gewaltige Rauschen und Tosen zu übertönen, mit denen sich die Wassermassen des Reinenflusses in die Tiefe stürzten.
Niko legte den Kopf in den Nacken, schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die blendenden Strahlen des Großen Taglichts ab und spähte zur Spitze des gewaltigen Felsens, der auf der rechten Seite des Wasserfalls aufragte. Dort oben, am Rande eines dichten Waldes, der bis ans Flussufer heranreichte, stand eine kleine Hütte, beschirmt vom weit ausladenden Geäst einer Esche.
Niko wandte sich ihrem Anführer zu. »Ist das die Hütte des Sehers?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Kieran achselzuckend. »Lasst uns hochreiten, dann werden wir es schon erfahren.«
Wenig später waren Niko und seine Begleiter oben auf dem Felsplateau angekommen, wo sich ihnen eine atemberaubende Aussicht über die Weiten des Nivlandes bot. Das satte Grün der Wälder, der Wiesen, Marschen und Felder wurde von den Strahlen des schwindenden Taglichts mit einem rotgold glänzenden Schleier überzogen. Niko ließ den Blick am glitzernden Lauf des Reinenflusses entlangwandern, bis er in der Ferne das dichte Wipfeldach des Dämonenwaldes erkannte. Dahinter lag der Flüsternde Forst, und irgendwo, ganz weit weg am fernen Horizont, musste Helmenkroon liegen, auch wenn von der mächtigen Burg und der sie umgebenden Ansiedlung natürlich nicht das Geringste zu sehen war. Der Anblick der fast paradiesischen Landschaft war so überwältigend, dass Niko sich kaum sattsehen konnte.
Ayani und Kieran schien es nicht anders zu ergehen. Schließlich gaben sich die Gefährten doch einen Ruck, stiegen von den Pferden und gingen auf den Eingang der aus Reisig, Schilf und Reet gefertigten Hütte zu. Sie hatten die Behausung kaum näher ins Auge gefasst, da trat der Seher aus der Tür.
Er war eines der seltsamsten Wesen, denen Niko jemals begegnet war. Er hatte die Gestalt eines Zwerges und war in ein schlichtes weißes Gewand gekleidet, das bis zum Boden reichte. Der Kopf mit den schulterlangen blonden Haaren war ungewöhnlich groß und besaß weder Nase noch Augen. Dafür trug der Seher drei deutlich sichtbare Male im Gesicht: Auf seinen Wangen waren das Zeichen des unerschrockenen Mutes und des grenzenlosen Vertrauens zu erkennen, seine Stirn zierte das Zeichen der Unsichtbaren. Noch bevor Niko ihn ansprechen und seinen Wunsch vortragen konnte, ergriff er das Wort.
»Mein Name ist Brani, falls euch das niemand gesagt haben sollte«, sagte er mit einer hellen Knabenstimme. »Ich habe auf dich gewartet, Niko, und freue mich, dass du endlich den weiten Weg zu mir gefunden hast.«
»Was? Ihr habt auf mich gewartet?« Niko schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann wusstet Ihr also, dass ich komme?«
»Aber natürlich, Niko«, antwortete der Seher. »Oder glaubst du vielleicht, dass ich mich ohne Grund in dieser verlassenen Gegend aufhalte?«
Niko verstand nicht im Geringsten, was Brani ihm damit sagen wollte. Seinen Begleitern erging es offensichtlich genauso: Sowohl Ayani als auch Kieran machten ratlose Gesichter und hoben nur bedauernd die Schultern.
»Warum zögerst du noch, Niko?« Der Seher klang wie ein quengeliger Junge. »Komm endlich zur Sache und trage dein Anliegen vor, damit ich endlich der Aufgabe gerecht werden kann, die die Unsichtbaren mir zugedacht haben.«
Diese
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