MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
niemandem was zuleide. Und uns Alwen schon gar nicht.«
Damit machte Ayani einen Schritt auf die Schlange zu, bückte sich und packte sie vorsichtig mit beiden Händen, hob sie auf und hielt den keilförmigen Kopf dicht vor ihr Gesicht. »Habe ich nicht recht, mein kriechender Freund?«, fragte sie das Tier. »Du und deine Artgenossen, ihr seid uns Alwen doch sehr verbunden.« Damit wandte sie sich an Niko, der noch immer mit gespreizten Fingern dastand und das Reptil voller Abscheu musterte. »Als die Unsichtbaren die Welt von Mysteria geschaffen haben, haben sie die Stumpfzahnnattern mit einer besonderen Aufgabe betraut: Sie bewachen Orte oder Gegenstände, die für uns Alwen von großer Wichtigkeit sind. Deswegen haben sie ihnen auch ein Schuppenkleid geschenkt, das ihnen ein gefährliches Aussehen verleiht und Unwissende schon bei ihrem bloßen Anblick zurückschrecken lässt. Dabei sind die Stumpfzahnnattern völlig harmlos.«
»Bist du sicher?«, fragte Niko verwirrt.
»Aber ja. Schließlich lernen wir Alwen das bereits in frühester Kindheit. Eine alte Legende, die man sich seit unzähligen Generationen an unseren Feuern erzählt, berichtet, dass es eine Stumpfzahnnatter war, die einem unserer Vorväter den Weg zum Tor des Feuers wies. Nachdem er es durchschritten und Sinkkâlion aus dem Schicksalsstein gezogen hatte, machten ihn die magischen Kräfte des Königsschwertes zum ersten Herrscher der Alwen. Ganz nah bei dieser Stelle hat er dann mit dem Bau einer Festung begonnen, aus der im Laufe der Jahrhunderte Helmenkroon, der Sitz unserer Könige, entstanden ist. - Hier!« Auffordernd hielt Ayani Niko die Schlange entgegen. »Nimm sie doch auch mal. Dann kannst du dich überzeugen, wie harmlos sie ist.«
»Och, nö!«, rief Niko und hob abwehrend die Hände. »Lieber nicht. Ich habe ziemliche Angst vor Schlangen!«
Ayani runzelte die Stirn. »Warum das denn?«
»Keine Ahnung. Es ist halt so.«
Ayani warf ihm einen mitleidigen Blick zu, setzte das Reptil wieder ins Gras, stieß dann aber ein überraschtes »Oh!« aus.
»Was ist denn?«, erkundigte sich ihr Bruder neugierig und trat dicht neben sie.
»Hier! Sieh mal das Zeichen.« Ayani deutete auf eine Stelle dicht hinter dem Schlangenkopf. »Meine Hand muss es verdeckt haben, als ich sie aufgehoben habe.«
»Lass sehen.« Arawynn ging in die Knie, um das Muster näher in Augenschein zu nehmen.
Auch Niko überwand seine Abscheu, trat einen kleinen Schritt näher und beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können. Als er das Zeichen erblickte, kam ebenfalls ein ungläubiges »Oh!« über seine Lippen. Rasch zwinkerte er, doch als er seine Augen wieder öffnete, war das Zeichen immer noch da. Das schwarze Muster auf der rotgelb geschuppten Haut der Schlange war unverkennbar: Es war die Mannaz-Rune.
Oder das Zeichen der Unsichtbaren, wie Ayani es genannt hatte.
Ayani schluckte, wandte sich zu Niko und schaute ihn mit fast feierlichem Ernst an. »Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein.« Niko verspürte plötzlich ein merkwürdiges Unbehagen im Bauch.
»Man sagt, Stumpfzahnnattern, die das Zeichen der Unsichtbaren tragen, sind von ihnen in unsere Welt gesandt worden.«
»Und warum?« Nikos Kehle war mit einem Mal wie zugeschnürt und sein Mund trocken wie eine Wüste nach einem Sandsturm.
»Weil sie dem, der sie als Erster erblickt, eine besondere Botschaft übermitteln sollen: Sie sollen ihn daran erinnern, dass er vor der großen Aufgabe nicht davonlaufen soll, die ihm zugedacht worden ist.«
»Echt?« Niko räusperte sich, um den Frosch in seiner Kehle loszuwerden. »Und welche Aufgabe soll das sein?«
»Nun …« Ayani wechselte einen raschen Blick mit ihrem Bruder, der ihr nach kurzem Überlegen aufmunternd zunickte. »Wie ich bereits erwähnt habe«, fuhr sie fort, »hat eine Stumpfzahnnatter einst den entscheidenden Hinweis bei der Suche nach dem Königsschwert geliefert. Und deshalb vermute ich, dass genau das auch deine Aufgabe ist. Ja, ich glaube das sogar ganz fest: Die Unsichtbaren haben bestimmt, dass du Sinkkâlion findest und uns mit seiner Hilfe aus unserer Knechtschaft befreist, genau wie die alte Legende es erzählt.«
»So ein Quatsch!«, protestierte Niko heftig. »Nur weil dieses blöde Viech da...« Er deutete ins Gras, um auf die Schlange zu zeigen, aber die war verschwunden. Als hätte der Erdboden sie verschluckt, war nicht die geringste
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