MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
daraus trank, wurde zu dichterischer Begeisterung hingerissen. Zu seinen größten Verehrerinnen zählte angeblich die wenig bekannte Asengöttin Saga, die ihr Leben der Dichtkunst geweiht hatte. Aus diesem Grunde zog sie sich in eine Höhle zurück, um aus silbernen Schalen alte Weisheiten zu trinken.«
Jessie speicherte die Notiz ab und wollte den Computer schon ausschalten, als ihre Tür geräuschvoll aufgerissen wurde und Maik in ihr Zimmer trat. Seinen glasigen Augen nach zu urteilen, hatte er wieder mal einen gebechert. Was auch die Narbe auf seiner linken Wange bewies, die sich dann immer zusätzlich rötete und noch deutlicher zu sehen war als sonst. So ein Blödmann!, schoss es Jessie spontan durch den Kopf. Seit Maik nämlich einen Aushilfsjob bei der Gemeinde bekommen hatte und den Friedhof und die kleine Grünanlage sauber hielt, investierte er die paar verdienten Euro hauptsächlich in Schnaps und Bier. Aber vielleicht hatte sein Vater Henk ihm auch einen spendiert? Die Alkoholfahne, die Jessie bei seinen ersten Worten entgegenflatterte, hatte jedenfalls gewaltige Ausmaße.
»Hey, du Kröte«, machte Maik sie an. »Willst du nich endlich ins Bett gehen und schlafen?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Jessie feuerte ihm finstere Blicke zu. »Außerdem hab ich dir schon tausendmal gesagt, dass du anklopfen sollst, bevor du in mein Zimmer kommst.«
»Ach, stell dich nich so an. Du wirst doch keine Geheimnisse vor deinem Bruder haben, oder?«
»Darum geht es doch gar nicht!«, schimpfte Jessie los. »Ich will nur, dass du meine Wünsche respektierst - und damit basta!«
In diesem Moment entdeckte Maik das alte Buch auf ihrem Bett. Sein Hals wurde lang und länger, während er mit Stielaugen darauf stierte. »Was liest du’n da?« Er wirkte plötzlich überraschend wach.
»Das geht dich einen feuchten Kehricht an!«, erwiderte Jessie, sprang hastig zum Bett und warf ihr Kopfkissen auf das Buch, damit Maik das Zeichen auf dem Einband nicht sehen konnte. »Und jetzt verpiss dich endlich!«, fügte sie rüde hinzu - weil das die einzige Sprache war, die ihr Bruder in angetrunkenem Zustand verstand.
Für einen Moment sah es so aus, als läge Maik eine wütende Erwiderung auf der Zunge. Doch plötzlich grinste er nur wie ein bekiffter Höhlentroll und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung, sodass die rotblonde Haarmähne ihm weit ins Gesicht fiel. »Zu Befehl, Prinzessin!«, sagte er mit vielsagendem Lächeln. »Ich wünsche Euch noch eine wunderschöne Nacht.«
KAPITEL 18
DIE LICHTELFE
E s dauerte nicht lange, bis Niko den verwunschenen See mitten im Wald erreichte. Er trat auf den schwankenden Steg, ließ sich an seinem Ende nieder und starrte hinaus auf das Wasser, das leise plätschernd unter dem sternenübersäten Himmel lag. Der Wind wisperte in den Weiden am Ufer, fuhr raschelnd durch die Blätter der mächtigen Bäume und kräuselte die Oberfläche des Sees, auf der sich die Gestirne wie glitzernde Diamanten spiegelten.
Als Niko den feuerroten gekrümmten Strich erblickte, der sich wie eine Wasserschlange in der Mitte des Sees zitternd hin und her wand, hielt er für eine Sekunde den Atem an. Doch dann erkannte er, dass es sich nur um das leicht verzerrte Spiegelbild der schmalen Mondsichel handelte.
Niko sah auf und richtete den Blick auf den Falken, der sich auf einem der alten Bäume am Ufer niedergelassen hatte. Der Vogel beachtete ihn nicht mehr. Das graubraune Gefieder leicht aufgeplustert, blickte er scheinbar teilnahmslos in die Schwärze der Nacht - wie ein Kurier, dessen Aufgabe sich mit dem Überbringen seiner Botschaft erledigt hat.
Merkwürdig, dachte sich Niko. Hatte er am Ende alles falsch verstanden? Hatte er sich alles nur eingebildet und war dem Vogel ohne jeden Grund gefolgt? Nicht nur hier an den See, sondern auch überhaupt in diese merkwürdige Welt hinter den Nebeln? Hatte er sich völlig unnötig in Gefahr gebracht?
Niko schluckte. Sein Hals war trocken und die Zunge in seinem Mund fühlte sich an wie eine pelzige Socke. Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überkam ihn - ähnlich wie an der Nebelpforte, nur um vieles schlimmer. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so verloren gefühlt. Er kam sich vor wie ein winziges Staubkorn in der unendlichen Weite des Universums. Nur dass dieses Universum, in das er geraten war, nicht von einem einzigen Stern erleuchtet wurde, sondern sich
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