MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
für nichts anderes mehr Zeit. Weder für Jessies Mutter noch für sie selbst. Dabei hätte sie die Hilfe ihres Vaters bei der alten Schwarte sehr gut brauchen können. Aber der trieb sich wohl lieber in seinen Fantasiewelten herum, anstatt sich um sie zu kümmern.
Das Buch war in einer sehr altertümlichen Schrifttype gedruckt, die Jessie nur mühsam entziffern konnte. Auch die Sprache war reichlich antiquiert. Zahlreiche Worte, Ausdrücke und Redewendungen waren ihr völlig unbekannt, was die Lektüre natürlich erschwerte. Das größte Problem aber waren die vielen Lücken im Text. Auf nahezu jeder Seite fehlten mehrere Zeilen, manchmal sogar ganze Absätze. Zum Ende des Buches hin wurde es immer schlimmer. Die fast völlig blanken Seiten mehrten sich und das letzte Fünftel etwa bestand sogar nur noch aus völlig leeren Blättern. Eigenartig, dass so ein fehlerhaftes Exemplar überhaupt in den Handel gekommen und vom Drucker nicht gleich vernichtet worden war.
Die Geschichte war gar nicht mal so uninteressant, zumindest soweit Jessie sie verstanden hatte. Allerdings war sie so langatmig und noch dazu so schwülstig geschrieben, dass sie Jessie beim Lesen richtiggehend Bauchschmerzen bereitete. Wenn Papa auch so langweilige Bücher schreiben würde, kam es ihr in den Sinn, wäre die Familie mit Sicherheit längst verhungert.
Dabei klangen sowohl der Titel - »Meine Aventurien in Mysteria« - als auch der Untertitel - »Von Nebelsteinen, Feuertoren und erschröcklichen Kreaturen« - gar nicht mal so übel. Tatsächlich handelte es sich um eine Art frühe Fantasy-Story, auch wenn man diese Bezeichnung zu der Zeit, als das Buch entstanden war, bestimmt noch nicht gekannt hatte.
Entsprechend ihrer Angabe - »Aufgezeichnet nach einer wahren Begebenheit« - hatte Karin Seikel, die Autorin, die Geschichte in Ich-Form geschrieben. Sie schilderte darin, wie sie mithilfe eines wundersamen Umhangs in eine geheimnisvolle Welt geraten war, die Mysteria hieß. Auf ihrer abenteuerlichen Reise durch die Welt hinter den Nebeln - wie eine andere Bezeichnung lautete - begegnete die Heldin unterschiedlichsten Wesen: Menschen und Alwen, Noktanern und Drachen, Vharuuls, Krähenmännern, Gestaltwandlern und vielen anderen mehr. Sie durchstreifte verschiedene Länder - das Grimme Reich, die Marschmark und weitere -, bis sie schließlich ins Nivland gelangte, das von den Alwen bewohnt und von einem König regiert wurde, der den Namen Nelwyn trug. Obwohl der Herrscher mit Königin Nimhuld verheiratet war, verliebte sich das Menschenkind Karin auf Anhieb in den König, der ihre Liebe zu ihrer großen Freude auch erwiderte. Die Ehe des Herrscherpaares war nämlich von den Vätern ohne Rücksicht auf die Gefühle ihrer Kinder arrangiert worden, sodass Nelwyn das Gefühl aufrichtiger und spontaner Liebe zu einer Frau erst jetzt entdeckte.
Während die Autorin ihre romantische Beziehung mit dem Alwenkönig nun lang und breit und überaus weitschweifig schilderte, ließ sie zahlreiche Informationen über die Geschichte, Kultur und auch die Mythologie seines Volkes mit einfließen. Die Alwen glaubten, dass ihre Welt von den Unsichtbaren erschaffen wurde - einer Art Götter offensichtlich -, die ihr Schicksal bestimmten und ihnen deshalb immer wieder Zeichen und Botschaften schickten. Diese Unsichtbaren hatten den Alwen am Anfang der Zeiten auch ein magisches Schwert vermacht, das den Namen Sinkkâlion trug und seinen jeweiligen Besitzer fast unbesiegbar machte - zumindest vermutete Jessie das, denn von da an wurde der Text immer lückenhafter.
Die Autorin streute auch einige Hinweise ein, wonach die Alwen einstmals auch in der Menschenwelt gesiedelt hatten. Da die Menschen ihnen jedoch feindlich gesonnen waren, zogen sie sich schließlich wieder in ihre Heimat zurück - und zwar durch die verschiedenen geheimen Zugänge, die die beiden Welten miteinander verbanden und die später nur noch den Eingeweihten bekannt waren. Das Nebeltor zum Beispiel oder das Tor des Feuers. Die Bezeichnungen der anderen Pforten konnte Jessie leider ebenso wenig entdecken wie nähere Einzelheiten über den ominösen Schatz, nach dem ihr Stiefbruder Maik und sein Vater Henk suchten. Karin Seikel erwähnte zwar, dass die Alwen tatsächlich einen Hort - Jessie wusste natürlich, dass das eine altertümliche Bezeichnung für Schatz war - von ungeheuerem Wert besaßen. Und bestimmt hatte sie auch irgendwo beschrieben, was es damit auf sich
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