Mysterium
empfinden.
»Vielen Dank«, sagte Tom zum Fahrer. Sie liefen zum Wagen zurück, stiegen ein und wendeten. Nach anderthalb Kilometern, genau wie der Fahrer gesagt hatte, entdeckten sie ein Wartehäuschen, das an der letzten Bushaltestelle stand. Doch niemand war in der Nähe, den sie fragen konnten, ob hier vor ein paar Minuten ein kleines Mädchen ausgestiegen war.
Tom blickte sich um.
»Sie könnte überall sein«, murmelte Clare.
»Nicht, wenn sie noch zu Fuß ist.«
»Warum sollte sie nicht zu Fuß sein?«, schoss Clare aus jener Schlangengrube albtraumhafter Gedanken zurück, die alle Eltern folterten, wenn ihr Kind vermisst wurde.
»Fahren wir herum«, schlug Tom vor, »Häuserblock für Häuserblock. Wir arbeiten uns von hier weiter nach außen.«
»Okay. Ich suche auf der anderen Seite«, stimmte Clare zu, die schon halb ausgestiegen war.
»Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns in fünfzehn Minuten hier wieder.«
Clare nickte knapp; sie nahm seine Worte kaum noch auf. Ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie schlug nicht einmal die Wagentür zu, bevor sie über die Straße lief.
18
Es war eine bescheidene Wohngegend. Die mit Holz verkleideten Häuser waren gut in Schuss, auch wenn hier und da kleinere Reparaturen oder ein neuer Anstrich fällig waren. Vor einigen Häusern lag Kinderspielzeug, und über manchen Hof spannte sich eine voll gehängte Wäscheleine. In den Auffahrten standen Wagen; einige waren auf Ziegelstapeln aufgebockt, sodass die Eigentümer daran arbeiten konnten. Es gab viel Grün, und die schachbrettartige Struktur der Straßen und Gassen wurde durch Baumgruppen aufgelockert.
Einige Male hielt Tom an, um Passanten zu fragen, ob sie ein kleines Mädchen in einem blaugelben Trainingsanzug gesehen hätten. Das war nicht der Fall. Nach zehn Minuten Patrouille war Tom klar, dass er Julia nicht finden würde, und so fuhr er zum Treffpunkt mit Clare zurück, kam jedoch ein paar Minuten zu früh. Tom wusste, dass er nicht untätig herumsitzen und warten konnte, also fuhr er auf die andere Straßenseite und führte dort die Suche fort.
Drei Querstraßen weiter sah er Clare ein gutes Stück voraus. Er beschleunigte und hupte. Sie warf einen Blick über die Schulter, lief aber weiter und machte ihm Zeichen, zu ihr aufzuschließen. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, bremste er, beugte sich zur Seite und stieß die Beifahrertür auf. Clare war im Wagen, bevor er auch nur anhalten konnte, und zog schwer atmend die Tür zu.
»Ein paar Leute sagen, sie hätten vor fünf oder zehn Minuten gesehen, wie ein Mädchen da sehr schnell hinuntergelaufen ist.«
Sie zeigte in Richtung einer Gasse, die von der Straße abzweigte und eine leichte Steigung hinaufführte. Tom bog in die Gasse ein. Beide hielten gespannt den Atem an, als sie der Straße ungefähr hundert Meter nach links und dann weiter aufwärts nach rechts folgten.
Plötzlich sahen sie Julia vor sich, eine kleine Gestalt, die mit jener merkwürdigen Entschlossenheit voranmarschierte, die Kinder an den Tag legen, wenn sie genau wissen, wohin sie wollen und was sie zu tun haben. Julia bemerkte sie nicht, bis Tom dicht neben ihr bremste. Als sie den Wagen sah, zuckte sie zusammen und wich zurück.
Tom war fast so schnell aus dem Wagen wie Clare, die sich schon vor Julia hingehockt und ihr die Hände auf die Schultern gelegt hatte. Tom sah, dass Clare das Kind zugleich vor Wut schütteln und vor Freude umarmen wollte. Er berührte sie am Arm, um sie zu beruhigen und daran zu erinnern, dass er da war. Clare zog Julia an sich und hielt sie ganz fest, als hätte sie Angst, das Mädchen jemals wieder loszulassen.
»Wo wolltest du denn hin, Schatz?«, fragte Tom in fast beiläufigem Tonfall, um Julia keine Angst zu machen und ihr zu zeigen, dass er nicht böse auf sie war.
Sie sah ihn an, während Clare sie immer noch in den Armen hielt.
»Meine Mommy besuchen«, antwortete Julia.
Tom sah, wie Clares Schultern zuckten, als sie den Schmerz, den Julias Worte verursachten, zu unterdrücken versuchte. Er ging neben ihr in die Hocke und blickte Julia in die Augen.
»Komm, steigen wir ins Auto«, sagte er.
In Julias Augen lag plötzliches Misstrauen. Sie versuchte, sich von Clare zu befreien. Clare lockerte ihre Umarmung, hielt das Mädchen aber weiter fest. Tom nahm Julias Hand.
»Gehen wir.«
»Nein!«
Sie riss sich von seiner Hand los und sah ihn verängstigt und wütend zugleich an, als wollte er sie entfuhren. In gewisser Weise,
Weitere Kostenlose Bücher