Mysterium
Haltestellen herummanövrierten. »Harry, ich brauche Ihren Wagen!«, rief er. »Meiner steht zu weit weg.«
Charlottes Vater holte einen Schlüssel aus der Tasche. »Da. Er ist versichert. Ich suche am Hotel weiter.«
Tom schnappte sich die Schlüssel und saß schon hinter dem Steuer, bevor Clare neben ihm einsteigen konnte. »Wo willst du hin?«
»Zu den Bussen. Harry sollte sie zu ihrer ›wirklichen Mommy‹ fahren, aber er hat sich geweigert. Bestimmt nimmt sie den Bus.«
Die Reifen von Harrys Wagen kreischten, als Tom beschleunigte, ohne sich um die protestierenden Rufe der Fußgänger und ihre drohend erhobenen Fauste zu kümmern. Tom machte eine verkehrswidrige 180-Grad-Wende und fuhr den Hügel hinab.
»Hat sie Geld dabei?«, fragte er Clare.
»Genug, um mit dem Bus zu fahren. Sie hatte ihr ganzes Taschengeld bei sich.«
Die Straße zum Busbahnhof machte eine leichte Linkskurve. Sie fuhren auf eine Kreuzung zu. Tom versuchte, hinüberzugelangen, bevor die Ampel auf Rot sprang, musste in letzter Sekunde aber voll auf die Bremse treten. Weder er noch Clare hatten den Sicherheitsgurt angelegt; Clare stemmte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab, um nicht nach vorn geschleudert zu werden.
»Tut mir Leid«, sagte Tom. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. Ihre Blicke suchten in der Entfernung nach dem Mädchen im blaugelben Trainingsanzug mit dem weißen Band im Haar.
»Schnall dich lieber an«, sagte Tom.
Sie taten es beide. Kaum war die Ampel auf Grün gesprungen, jagte Tom los und erreichte kurz darauf den Busbahnhof der sich als größer erwies, als er von weitem ausgesehen hatte. Der normale Straßenverkehr wurde außen herumgeführt, und Tom fand keine Einfahrt.
»Stopp, Tom. Lass mich aussteigen und suchen.«
Clare sprang aus dem Wagen, kaum dass er stand, stieg auf eine Verkehrsinsel und reckte den Hals, um sich einen Überblick zu verschaffen. Menschen und Fahrzeuge bewegten sich kreuz und quer in sämtliche Richtungen. Es war unmöglich, in diesem Gewühl etwas zu erkennen.
Plötzlich entdeckte Tom sie, beinahe unbewusst; er sah nur einen farbigen Schemen, der einen Moment später wieder verschwunden war. Er war nicht einmal sicher, ob er sie tatsächlich gesehen hatte.
»Da hinten!«, rief er Clare zu, während er aus dem Wagen stieg, und zeigte in die Richtung. Clare war bereits losgelaufen. Tom rannte hinter ihr her. Er hörte den nagelnden Dieselmotor, bevor er den Bus sah, der auf ihn zukam. Im letzten Moment sprang Tom zurück, nahezu taub vom Dröhnen der Hupe. Er lief um das hintere Ende des Busses herum. As er wieder hervorkam, konnte er weder von Clare noch von Julia etwas sehen.
Tom lief zur nächsten Verkehrsinsel, blickte in sämtliche Richtungen und entdeckte Clare. Sie war so weit von der Stelle entfernt, an der er sie zuvor gesehen hatte, dass er sich fragte, wie sie so schnell dort hingekommen war. Sie versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, winkte und zeigte auf irgendetwas. Tom wollte ihr folgen, doch ein zweiter Bus kam ihm in die Quere.
Hinter einem der Fenster sah er deutlich das Gesicht seiner Tochter. Sie schaute ihn nicht an; nichts wies darauf hin, dass sie ihn überhaupt gesehen hatte. Nach einer Sekunde war sie an ihm vorbei.
Aber sie war es.
17
Ohne den Blick vom Bus zu nehmen, wendete Tom den Wagen und stieß die Beifahrertür auf, damit Clare einsteigen konnte.
»Du hättest nicht auf mich warten sollen«, sagte sie.
»Mach dir keine Sorgen, wir haben sie.«
Er fädelte sich rücksichtslos in den Verkehrsstrom ein, was wütendes Gehupe zur Folge hatte, doch er behielt den Bus im Blick. Sie folgten ihm über zwei Ampeln, von denen keine lange genug auf Rot stand, dass einer von ihnen aus dem Wagen springen und an die Tür des Busses klopfen konnte. An der dritten Ampel fuhr ein Laster bei Rot über die Kreuzung und schob sich zwischen sie und den Bus.
Als sie den Laster überholt hatten, fanden sie sich plötzlich hinter zwei Bussen statt einem wieder. Nichts verriet, welcher der richtige war. Tom schlug wütend mit der Hand aufs Lenkrad.
»Scheiße!«
»Es ist der Bus auf der rechten Seite.«
»Woher willst du das wissen.«
»Weil er da vorher schon war.«
»Du irrst dich.«
Plötzlich stritten sie sich wie ein altes Ehepaar auf Urlaubsreise darüber, wer den richtigen Weg kannte und wessen Schuld es war, dass sie falsch fuhren. Nur war es diesmal überhaupt nicht lustig. Das wurde beiden im gleichen
Weitere Kostenlose Bücher