Mysterium
vermutete Tom, war es auch so. Er wollte nichts anderes, als sie dort wegholen. Er wollte sie alle dort wegholen.
Was konnten sie tun? Julia schreiend davonzerren? Die eigene Tochter kidnappen? Sie waren schon zu weit gegangen. Es war zu spät.
»Wo wohnt denn deine …« , begann Clare, brachte den Satz aber nicht zu Ende. »Wo möchtest du denn hin?«, fragte sie stattdessen.
Julia streckte den Arm aus und zeigte die Straße hinauf. »Da ist eine Windmühle«, sagte sie, »und da ist auch mein Haus.«
»Dann lass uns ins Auto steigen und hinfahren«, schlug Tom vor und bot ihr seine Hand. Julia blieb misstrauisch. »Wir können auch zu Fuß gehen«, fügte er hinzu. »Ganz wie du willst.«
Julia brauchte einen Augenblick, um sich zu entscheiden und sicherzugehen, dass sie ihm vertrauen konnte und dass nicht alles bloß ein Trick war. Sie nahm Toms Hand und stieg gehorsam in den Fond des Wagens.
Tom und Clare versuchten, einander nicht anzuschauen, als sie vorn einstiegen. Beide fühlten sich seltsam verlegen. Die unsichtbare Mauer, die in den letzten zwei Tagen um Julia herum gewachsen war, drohte sie nun auf eine Weise zu trennen, die sie nicht verstanden. Sie wussten beide, dass sie dagegen kämpfen sollten, kämpfen mussten , doch sie wussten nicht, wie.
Tom fuhr langsam, wie jemand, der eine Adresse oder Hausnummer suchte. Er konnte Julia im Innenspiegel sehen; sie war aufmerksam und voller Vorfreude. Die Häuser, an denen sie jetzt vorbeifuhren, waren schäbiger und heruntergekommener als die in der Nähe der Hauptstraße, die Autos waren älter und rostiger, und die Menschen hier schienen sich am unteren Ende der sozialen Leiter zu befinden.
»Da«, rief Julia plötzlich, »die Windmühle!«
Ihre Eltern blickten in die Richtung, in die sie zeigte. Und tatsächlich, auf einem der Häuser befand sich ein kurioses Machwerk, eine Art selbst gemachte Wetterfahne in Gestalt einer Windmühle.
Julia wurde ganz aufgeregt und rief: »Da ist mein Haus! Da ist mein Haus!«
Es stand ein Stück vom Straßenrand zurückgesetzt. Mehrere hohe, dünne Bäume standen um das Gebäude herum. Es war zwar nicht zu übersehen, dass die Bewohner versuchten, Haus und Hof sauber und aufgeräumt zu halten, aber es war dringend nötig, Geld ins Haus zu stecken. Hier gab es zwar keine zerbrochenen Fensterscheiben, aber die Spitzengardinen, die in den Fenstern beider Etagen hingen, waren alt und ausgewaschen.
Julia war bereits aus dem Wagen gesprungen und rannte los, bevor Tom auch nur daran dachte, die Türen zu verriegeln. Nicht dass es etwas genützt hätte, Julia im Wagen einzusperren. Mit beinahe Übelkeit erregender Deutlichkeit wurde Tom bewusst, wie sehr ihr Leben in der letzten Stunde außer Kontrolle geraten war. Sie taten alles, wovon sie vorher gesagt hatten, dass sie es nicht tun würden – nicht tun durften –, doch ihnen war gar keine andere Wahl geblieben.
Tom schaute Clare an, die den Kopf drehte und ihn ansah, ohne dass ihre Blicke sich getroffen hätten. Beide hofften, dass der andere wusste, was als Nächstes zu tun war, doch beide mussten sich eingestehen, wie vergeblich diese Hoffnung war. Tom fühlte sich überfordert wie noch nie zuvor im Leben.
Plötzlich, ohne dass ihm bewusst war, sich bewegt zu haben, stellte er fest, dass er Julia folgte. Er fragte sich, was er tun würde, wenn er sie einholte. Clare war an seiner Seite. »Julia«, hörte er sie rufen, »komm zurück.«
Julia schenkte ihnen keine Beachtung. Bevor sie das Mädchen erreichten, war es die Stufen zur Veranda hinaufgestiegen und zog eine Schiebetür mit Fliegengitter auf. Als sich zeigte, dass die Tür dahinter verschlossen war, schlug Julia mit der flachen Hand dagegen und rief: »Mommy! Mommy! Mommy!«
Augenblicke später holten Clare und Tom das Mädchen ein.
Die Tür öffnete sich, und Tom blickte in das Gesicht einer Frau.
19
Sie war vermutlich nicht älter als dreißig, besaß aber den müden Blick eines Menschen, der bereits erfahren hatte, dass er vom Leben nicht viel mehr erwarten durfte als Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Die Frau war im Grunde recht attraktiv, doch der missmutige Ausdruck auf ihrem Gesicht ließ sie älter aussehen und abweisend erscheinen. Sie trug eine alte Jeans, abgewetzte Turnschuhe und einen schmuddeligen Pullover.
»Was ist los?«, fragte sie in schroffem Tonfall, und ihr argwöhnischer Blick schweifte zwischen dem fremden Paar und dem Mädchen hin und her.
Julia, die überhaupt keine
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