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Mysterium

Mysterium

Titel: Mysterium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ambrose
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schlang die Arme um Toms Hals und gab ihm einen Kuss. Dann sah sie ihn an und runzelte die Stirn, weil sie etwas auf dem Herzen hatte.
    »Daddy?«
    »Was ist, mein Schatz?«
    »Wo bist du letzte Nacht hingegangen?«
    Tom hoffte, dass Julia sein Zögern nicht bemerkte. »Hat Mommy dir das nicht gesagt?«
    »Sie hat gesagt, du wärst jemand besuchen. Wer war es denn?«
    »Ach, nicht weiter wichtig. Das war jemand, mit dem ich vielleicht zusammenarbeite und der … der sein Flugzeug nicht verpassen durfte.«
    »Jemand für einen von deinen Filmen?«
    »Ja. Sag mal, wie war die Schule heute?«
    »Ganz okay.«
    »Du hörst dich an, als wärst du dir nicht sicher.«
    »Mrs. Simmons ist krank. Und Mr. Dawber, der in Vertretung für sie Englisch unterrichtet, mag ich nicht.«
    »Wieso nicht?«
    Sie verzog das Gesicht. »Der regt sich wegen jedem kleinen Fehler auf. Echt ätzend, der Typ.«
    »O je, das hört sich aber nicht gut an.«
    »Ist es auch nicht.«
    Sie plauderten noch eine Weile, bis Clare aus dem Erdgeschoss rief dass Sarah gekommen sei, um Julia ihre Klavierstunde zu erteilen. Sie drückte ihren Daddy und ging nach unten.
    Tom ging ins Schlafzimmer und betrachtete sein Spiegelbild. Er konnte eine Rasur vertragen. Behutsam verteilte er Rasierschaum auf Kinn und Wangen, ließ heißes Wasser ins Waschbecken laufen und griff nach dem Rasiermesser. Währenddessen fluteten Klavierakkorde von unten zu ihm herauf. Tränen stiegen ihm in die Augen. Der Kontrast zwischen dem ruhigen Haus, in dessen Stille nur die harmonischen Klänge aus dem Erdgeschoss zu hören waren, und dem Schrecken, der immer noch in seinem Innern lauerte, war zu groß, als dass er ihn ertragen konnte.
    Plötzlich brauchte er so dringend einen Drink, dass ihn schon der bloße Gedanke krank machte, gegen das Verlangen ankämpfen zu müssen.
    Was macht schon ein Drink, sagte er sich. Es würde ihm helfen, die ganze Sache durchzustehen. Wer konnte ihm das zum Vorwurf machen? Gelegentlich ein Drink, um durchzuhalten, war selbst für einen Problemtrinker möglich, oder? Man konnte wochenlang in vernünftigem Maße trinken, bevor die Gefahr entstand, dass man abstürzte. Vielleicht würden ein paar Wochen reichen, bevor … was?
    Was eigentlich?
    Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er einen Drink wollte … und dass er dagegen ankämpfen musste … und dass er Hilfe brauchte.
    Im Spiegel sah er, dass Clare ins Badezimmer gekommen war und ihn betrachtete. Sie stand ganz still da, blickte ihm durchs Spiegelbild direkt in die Augen und beobachtete den Kampf den er mit sich selbst austrug.
    »Schon in Ordnung«, sagte er. »Ich krieg das in den Griff. Was immer passiert, ich schwöre dir, dass ich mit der Sache auch nüchtern fertig werde.«
    Clare trat hinter ihn, legte die Arme um seine Brust und die Hände auf seine Schultern. »Wir haben vierzig Minuten, bis die Musikstunde zu Ende ist.«
    Er hatte bis jetzt nicht das leiseste sexuelle Verlangen verspürt, nun aber, da sich ihr weicher, warmer Körper an seinen Rücken presste, wollte er nichts anderes mehr, als sich in ihrer Umarmung zu verlieren.
    Später, als sie sich in den Armen lagen, lauschten sie den gebrochenen Akkorden und einfachen Melodien. Als sie plötzlich verstummten, sagte Clare: »Huch! Wir sollten wieder in die Klamotten kommen.«
    Sie schwang die Füße auf den Teppichboden und zog sich rasch an. Tom beobachtete sie mit einer Mischung aus Verwunderung, Ungläubigkeit und wiedererwachender Lust. »Weißt du was?«, sagte er. »So wie du mit der Sache fertig wirst, musst du genauso verrückt sein wie ich.«
    »Das hoffe ich doch«, entgegnete Clare und lächelte ihn an. »Wenn sich nach all den Jahren herausstellt, dass wir nicht zusammenpassen, wäre ich echt sauer.« Sie gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Nase und verschwand auf der Treppe.
    Tom fuhr sich mit der Hand übers Kinn und erinnerte sich, dass er sich immer noch nicht rasiert hatte. Er schwang sich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Diesmal war er gerade fertig, als er wieder ein Gesicht im Spiegel entdeckte, das ihn beobachtete. Aber diesmal war es Julia, nicht Clare.
    »Hallo, Schatz«, sprach er ihr Spiegelbild an und trocknete sich dabei ab. »Dein Klavierspiel hat sich super angehört. Du hast Fortschritte gemacht, und …«
    Er verstummte, denn sie erwiderte seinen Blick im Spiegel mit einem seltsam erwachsenen Ausdruck. Er wusste sofort – genau wie in der vergangenen Nacht –, dass dieses Mädchen

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