Mysterium
nicht seine Tochter war.
»Okay«, sagte sie, »nachdem du den Ort gefunden hast, was wirst du jetzt unternehmen?«
Er rührte sich nicht. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und sich ihr zu stellen. Ob aus Angst vor ihr oder davor, was er vielleicht mit ihr anstellen würde, wusste er nicht.
»Was soll ich denn tun?«, fragte er, und die Worte blieben ihm fast im plötzlich trockenen Hals stecken.
»Was der Seelenklempner gesagt hat«, erwiderte sie mit ausdrucksloser, monotoner Stimme – beinahe wie ein Roboter, dachte er und fragte sich einen Augenblick, ob sie hypnotisiert worden war.
»Das dachte ich mir«, entgegnete er und stellte fest, dass er in demselben ausdruckslosen Ton sprach. War auch er hypnotisiert? Oder träumte er? Ihm kam in den Sinn, was Hunt gesagt hatte – dass man sich selbst kneifen könne –, doch er versuchte es gar nicht erst. Vor den Augen dieser Furcht einflößenden, unheimlichen Erscheinung wäre es absurd gewesen.
»Das weiß ich«, sagte sie. »Mach weiter damit. Geh zu diesem Seelenklempner. Du wirst aus der Sache wieder rauskommen.«
Tom sah, wie ihr Spiegelbild sich umdrehte und das Zimmer verließ. »Warte!«, rief er und eilte ihr hinterher. Mit ausgestreckter Hand wollte er sie an der Schulter packen und herumdrehen, damit sie ihn ansah. Dann aber stockte er; irgendetwas sagte ihm, dass es genauso gefährlich wäre, wie einen Schlafwandler zu wecken.
Doch es waren keine Ängste oder Zweifel, die ihn zögern ließen. Es war das Klingeln seines Handys auf dem Nachttisch. Erleichtert, dass sein Handeln durch einen Reflex und nicht durch Entscheidung diktiert wurde, nahm er den Anruf entgegen.
»Hallo?«
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.« Es war Brendan Hunt.
»Nein, ich hatte schon ausgeschlafen.«
»Wie fühlen Sie sich?«
»Geht so. Besser.«
»Das ist gut. Schlaf war genau das, was Sie brauchten. Tom, wir müssen reden. Ich nehme an, Sie haben Clare nichts von dem erzählt, was wir besprochen haben.«
»Nein.«
»Wir sollten uns am Vormittag treffen. Julia hat um halb zwölf eine Sitzung. Bringen Sie das Mädchen selbst her, ja? Ich brauche nicht mehr als zehn Minuten für sie. Wir sind praktisch so gut wie fertig. Wir können sie dann mit dem Taxi zur Schule schicken, sodass Sie und ich ein bisschen Zeit gewinnen. Ich konnte Ihnen heute Nachmittag nicht alles sagen. Es gibt da noch mehr …«
»Okay«, sagte Tom und überlegte, ob er Hunt berichten sollte, was Sekunden zuvor mit Julia geschehen war.
Konnte es Zufall sein, dass Hunts Anruf so postwendend erfolgt war?
Bestimmt nicht.
Irgendetwas ging hier vor sich. Aber was?
»In Ordnung«, sagte Tom, »wir werden da sein. Um halb zwölf«
Als er zehn Minuten später die Treppe herunterkam, war Julia am Telefon. Sie unterhielt sich mit einer Freundin über irgendetwas, das sie am Wochenende vorhatte. Clare hatte in der Küche mit den Vorbereitungen fürs Abendessen angefangen.
»Brendan Hunt hat gerade angerufen«, sagte Tom, dem es wider Erwarten gelang, beiläufig zu klingen. »Er hat vorgeschlagen, dass ich Julia morgen zu ihrer Sitzung bringe, weil er mit mir reden möchte.«
»Fein«, sagte Clare. »Anschließend kannst du sie doch zur Schule bringen, oder?«
»Ich rufe ihr ein Taxi.«
Clare machte mit den Vorbereitungen für das Essen weiter.
Tom zögerte; dann sagte er: »Ich glaube, ich sollte zu einem Treffen gehen.«
Das Treffen war natürlich ein Meeting der Anonymen Alkoholiker. Er hatte seit Jahren nicht mehr regelmäßig daran teilgenommen. Vielleicht war er zu selbstsicher geworden. Falls dem so war, musste er sich jetzt der Tatsache stellen, wie zerbrechlich seine Selbstdisziplin gewesen war. Sich wieder zu fangen, auch nach einem einzigen Ausrutscher, war ein steiler und beschwerlicher Weg.
Clare nahm die Ankündigung sichtlich erfreut auf. »Dann essen wir, wenn du wieder da bist.« Sie küssten sich mit einer Zärtlichkeit, die Erinnerungen an das bezeugte, was vorhin im ersten Stock geschehen war.
»Ich liebe dich«, flüsterte Tom ihr ins Ohr. Eine Zeit lang hielten sie einander in den Armen. Dann, ohne ein weiteres Wort, drehte er sich um und verließ das Haus.
43
Tom erkundigte sich telefonisch, wo zu dieser Stunde ein Treffen der AA stattfand und erfuhr, dass es nur ein halbes Dutzend Querstraßen entfernt war. Er machte sich zu Fuß auf den Weg – zum einen, weil ihm der Sinn nach Bewegung stand, zum anderen, weil er befürchtete, noch zu viel Alkohol im Blut
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