Mysterium
die in jener Nacht in Hamburg gewesen war, und wenn man uns Blutproben entnahm oder dergleichen, was durchaus möglich war, hatte ich ein Problem.
Doch als die Tage und Wochen vergingen, entspannte ich mich allmählich. Offenbar war ich noch einmal davongekommen. Ich fühlte mich, als wäre ein großes Gewicht von mir genommen und als wäre mir eine Chance auf ein zweites Leben gegeben worden. Und ich schwor mir, diese Chance zu nutzen. Ich würde den Tod hinter mir lassen. Ich würde weitermachen, als hätte es Cassie, Naomi und Hanna nie gegeben. Ich erkannte, wie sehr ich mir wünschte, ein normales Leben zu führen, und ich beschloss, genau das zu versuchen.
Einige Wochen später lernte ich ein Mädchen namens Karen kennen. Ich war im Haus eines Freundes und spielte Tennis. Karen ergriff die Initiative, indem sie sich entschuldigte, um gleichzeitig mit mir das Haus zu verlassen, sodass wir zusammen gehen konnten. Sie erzählte mir, sie hätte gehört, dass ich ein Held wäre. Zunächst verstand ich nicht. Für einen Moment dachte ich, sie hätte sich über mich lustig gemacht, dann fiel der Groschen: Sie sprach von meiner Schwester. Das war natürlich die Version, die meine Umgebung akzeptiert hatte: dass ich beinahe umgekommen wäre, als ich mutig versucht hatte, meiner Schwester das Leben zu retten. Bescheiden spielte ich die Geschichte herunter und erklärte, ich hätte nur getan, was jeder andere auch getan hätte. Aber Karen sagte, sie glaube das nicht, und für sie sei ich etwas Besonderes. Sie benutzte das Wort zweimal. Etwas Besonderes. Vielleicht auch öfter als zweimal. Als wir uns trennten, hatte ich mich bereits für das Wochenende zu einer Tanzveranstaltung mit ihr verabredet.
Ich fühlte mich geschmeichelt und war aufgeregt. Karen hatte weiches, blondes Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und eine Art, sich zu bewegen und zu reden, die zugleich zurückhaltend und schüchtern als auch voll sexueller Verheißung war. Rein äußerlich hätte sie sich nicht stärker von meiner Schwester unterscheiden können, oder von Naomi oder Hanna.
Gleichzeitig hatte ich Angst. Was war, wenn ich nicht zustande brachte, was sie von mir erwartete? Würde ich mich wieder selbst demütigen? Oder schlimmer, würde ich wieder in Wut geraten und tun, was ich in Hamburg getan hatte?
Es war keine Frage: Ich konnte nicht so weitermachen wie bisher. Ich musste mich ändern – und ich redete mir selbst ein, dass ich es konnte. Das Problem war, dass meine sexuelle Erfahrung sich ausschließlich auf Fantasien beschränkte, wie bei den meisten Jungen meines Alters. Wegen meiner ungewöhnlichen Vorgeschichte, so nahm ich an, wurde meine Einbildungskraft von Erinnerungen an Naomi und das deutsche Mädchen beherrscht – und an das, was ich nach ihrem Tod getan hatte. Sogar die Erinnerung an meine Schwester und den Ausdruck der Fassungslosigkeit und des Entsetzens in ihrem Gesicht, als ich auf ihre Hände trat und sie in den Tod stürzte, verschaffte mir manchmal eine zusätzliche Erregung. Es war offensichtlich für mich, dass ich eine neue und andere Erfahrung brauchte, um meinem Innern Abwechslung zu bieten und es zu bereichern.
Aber genau da fand ich mich in einem Teufelskreis wieder. Ich hatte mit Karen Sex, wie die meisten Teenager Sex hatten – Fummeln, Petting, orale Stimulation und schließlich, nachdem sich gegenseitiges Vertrauen aufgebaut hatte, die vorsichtige Vereinigung. Sie war keine Jungfrau, und so war der letzte Schritt nicht so schwierig, und offen gesagt, erwies sich ihre Erfahrung, so begrenzt sie auch war, als große Hilfe für mich.
Das Problem war allerdings, dass ich mich mehr als je zuvor auf die Bilder aus meiner Vergangenheit konzentrieren musste, um eine Erektion zu bekommen und aufrechtzuerhalten. Das Ergebnis war, dass ich meine Fantasien verstärkte, anstatt sie zu ersetzen. Und indem ich sie verstärkte, riskierte ich, mich selbst so weit voranzupeitschen, dass ich sie wiederholte.
Und das wollte ich wirklich nicht.
Glauben Sie mir.
Hätte Karen gewusst, was während unserer gemeinsamen Stunden in meinem Kopf vor sich ging, wäre sie vor Entsetzen schreiend davongelaufen. Doch als unsere Beziehung sich weiterentwickelte, wurde ich zunehmend entspannter, was mein Doppelleben betraf – mein inneres und mein äußeres Leben. Ich funktionierte. Eigentlich funktionierte ich sogar ziemlich gut. Wir waren ein schönes Paar. Für die Welt waren wir so normal wie Apfelkuchen mit Schlagsahne.
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