Mysterium
umgangssprachlich. Ich war schon vorher beeindruckt gewesen, wie viele Ausländer in Europa Englisch sprachen.
»Du gehst nicht weg«, sagte ich. »Wir sind noch nicht fertig.«
»O doch, das sind wir, verdemmt!«
Mit diesen Worten verpasste sie mir einen Hieb auf den Brustkorb, der mich verblüffte. Es war eine Selbstverteidigungstechnik; offensichtlich hatte sie gelernt, auf sich selbst aufzupassen. Jemand anders hätte sie durch einen solchen Schlag vielleicht einschüchtern können, und wahrscheinlich kannte sie noch weitere Schläge. Aber ich hatte den braunen Gürtel in Karate. Ich führte zwei Schläge gegen ihren Magen und Hals, die sie durchs Zimmer taumeln ließen. Sie landete in einer Zimmerecke. Ich sah zu, wie sie sich aufrappelte und sich schüttelte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Offenbar hatte sie gar nicht richtig begriffen, was passiert war, und war verblüfft. Aber sie machte sich bereit, zurückzuschlagen. Plötzlich griff sie nach etwas, das unter dem Bett versteckt war – ein Messer oder sogar eine Schusswaffe, nahm ich an. Ich sprang auf sie, bevor sie dort war, und meine Hände schlossen sich um ihren Hals.
So war es passiert. Aber erst, nachdem es passiert war, wurde mir klar, dass es das war, was ich die ganze Zeit gebraucht hatte; ich hatte es mir nur nicht eingestanden. Ich hatte sogar unterdrückt, dass all die erotischen Bilder, die ich mir voller Zorn vor mein inneres Auge gezerrt hatte, um einen Ständer zu bekommen, Bilder von Naomi gewesen waren und von der Nacht, als ich zu dem Haus gegangen war, in dem sie auf das Baby aufgepasst hatte.
Plötzlich schien es mir, als wäre das alles noch einmal geschehen. Eine perfekte Wiederholung. Mir wurde klar, dass ich es nicht nur brauchte, sondern wollte . Ich war beinhart und machte mich ans Werk.
Ich musste überall Spuren hinterlassen haben, hatte jede Kontrolle verloren, und doch …
Es war, als würde ein Teil von mir sich von alledem lösen, sich außerhalb des Irrsinns bewegen, würde ruhig zuschauen und weder gutheißen noch verurteilen, was ich tat. Sogar das Vergnügen, das die vollbrachten Taten mir bereiteten, war irgendwie nicht meines. Es war Befriedigung auf Abstand, wie Sex in einem Traum. Es war seltsam, dieses Gefühl, von sich selbst getrennt zu sein.
Erst als es vorbei war, fügten beide Teile sich wieder zusammen, wie die zwei Bilder in einer Stereobrille. Und erst dann kam die Erkenntnis, dass dies mein Schicksal und meine Zukunft war. Nie würde ich der Befriedigung näher kommen als auf diese Weise. Durch dieses andere Ich, das periodisch aus mir hervorbrechen würde wie der Superheld eines Comic-Hefts, würde ich gelegentlich die Vollkommenheit erreichen; aber ich würde mir dessen nur dann voll bewusst werden – des Gefühls, Geschmacks, Geruchs und alles anderen –, wenn ich dieses andere Ich wieder in mich aufnahm und seine Erfahrungen und Erinnerungen zu den meinen machte.
Meine Mutter blickte auf die Armbanduhr. Sie hatte um drei eine Konferenz mit dem Verwaltungsrat des Orchesters. Es würden Freunde zum Abendessen kommen – sie hoffte, dass mit mir alles in Ordnung war. Warum ruhte ich mich in der Zwischenzeit nicht aus und überwand meine Müdigkeit nach dem Flug?
Sie küsste mich auf die Wange und ging. Mein Gesicht war trocken, Gott sei Dank, doch meine Hände, die ich im Schoß krampfhaft ineinander verschränkt hatte, waren schweißnass.
Ich ging zu dem kleinen Bad neben der Haupttreppe und wusch mir dort hektisch die Hände, weil ich fürchtete, dass die klamme Feuchtigkeit jedem, der sie bemerkte, jene Dinge verraten würde, über die ich nicht sprechen konnte.
49
Es war kaum überraschend, dass ich in dieser letzten Nacht in Hamburg nicht schlief. Am nächsten Morgen überflog ich die deutschen Zeitungen, die man uns als Teil unserer Sprachstudien zu lesen ermunterte. Und natürlich war sie da. In einer der Zeitungen gab es sogar ein Foto – nicht von der Leiche, sondern von ihr selbst. Das Bild mochte ungefähr ein Jahr alt sein.
Unnötig zu erwähnen, dass ich mehrere Nächte nicht schlief; ich hatte tatsächlich einen schlimmen Jetlag. Klar, ich war ungeheuer erleichtert, wieder auf amerikanischem Boden zu sein, aber ich wusste haargenau, dass ich noch nicht ganz frei und aus dem Schneider war. Die DNA-Analysen waren zu jener Zeit noch nicht so präzise wie heutzutage, aber wenn man jemals den Tod dieses Mädchens mit einer amerikanischen Schülergruppe in Verbindung brachte,
Weitere Kostenlose Bücher