Mystic River
über meine Arbeit.«
Sein Vater lehnte sich zurück und betrachtete Sean mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. »Na, komm, dann klär mich mal über die Menschheit auf.«
Sean merkte, dass er rot wurde. »Hey, nein, ich wollte bloß …«
»Bitte!«
Sean kam sich blöd vor. Es war erstaunlich, wie schnell sein Vater es schaffte, Sean den Eindruck zu vermitteln, dass das, was bei den meisten Bekannten von Sean als normale Beobachtung durchging, in den Augen seines Vaters ein Versuch des kleinen Sean war, den Erwachsenen zu mimen, wobei er nur wie ein elender Wichtigtuer klang.
»Gib mir auch mal eine Chance! Ich denke, ich kenne mich ein bisschen mit Menschen und Verbrechen aus. Das ist mein Job, wie du weißt.«
»Und du glaubst, dass Dave ein neunzehnjähriges Mädchen abgeschlachtet hat, Sean? Dave, mit dem du auf dem Hof gespielt hast. Dieser Junge?«
»Ich glaube, dass jeder zu allem fähig ist.«
»Dann hätte ich’s ja auch tun können.« Sein Vater legte die Hand auf die Brust. »Oder deine Mutter.«
»Nein.«
»Überprüf besser mal unsere Alibis.«
»Das hab ich doch nicht gesagt. Mensch!«
»Aber sicher. Du hast gesagt, jeder wäre zu allem fähig.«
»In gewisser Weise zu allem fähig.«
»Aha«, rief sein Vater. »Der Teil muss mir wohl entgangen sein.«
Er machte es schon wieder: Er verwickelte Sean in Widersprüche, spielte mit ihm, wie Sean mit den Verdächtigen im Kabuff spielte. Kein Wunder, dass Seans Verhöre so gut waren. Er hatte bei einem wahren Meister gelernt.
Eine Weile saßen sie schweigend da und schließlich sagte sein Vater: »Hey, vielleicht hast du ja Recht.«
Sean schaute ihn an und wartete auf die Pointe.
»Vielleicht kann Dave das getan haben, was du meinst. Keine Ahnung. Ich kann mich nur an ihn als Kind erinnern. Als Mann kenne ich ihn nicht.«
Sean versuchte, sich selbst mit den Augen seines Vaters zu sehen. Er fragte sich, ob sein Vater das Kind, nicht den Mann sah, wenn er seinen Sohn anschaute. Wahrscheinlich konnten Eltern gar nicht anders.
Sean fiel wieder ein, wie seine Onkel immer über seinen Vater gesprochen hatten, den jüngsten Sohn einer Familie mit zwölf Kindern, die aus Irland ausgewandert war, als sein Vater fünf Jahre alt gewesen war. »Der alte Bill« sagten sie immer und meinten damit den Bill Devine, der vor Seans Geburt existiert hatte. Der »Raufbold«. Plötzlich konnte Sean ihre Stimmen wieder hören und nahm den herablassenden Ton wahr, mit dem eine ältere Generation eine jüngere bedachte, denn die meisten Onkel von Sean waren gute zehn bis fünfzehn Jahre älter als ihr kleiner Bruder.
Inzwischen waren sie alle tot. Alle elf Geschwister seines Vaters. Und hier saß das Nesthäkchen, wurde bald fünfundsiebzig, hatte sich in einem Vorort nahe eines Golfplatzes verkrochen, den er nie benutzte. Der Letzte, der übrig war, und trotzdem immer noch der Jüngste, immer der Jüngste, der gegen jeden Anflug von Gönnerhaftigkeit aufmuckte, besonders von Seiten seines Sohnes. Der sich, wenn es sein musste, vor der ganzen Welt verschloss, bevor er sich auch nur einen Anflug von Bevormundung gefallen ließ. Denn alle, die das Recht hatten, ihn so zu behandeln, waren längst von dieser Erde verschwunden.
Sein Vater warf einen Blick auf Seans Bier und legte ein paar Münzen Trinkgeld auf den Tisch.
»Bist du fertig?«, fragte er.
Sie überquerten die Route 28 und gingen die Zufahrtsstraße mit ihren gelben Straßenschwellen und den Bewässerungsanlagen entlang.
»Weißt du, worüber sich deine Mutter freuen würde?«, fragte sein Vater.
»Worüber denn?«
»Wenn du ihr öfter schreiben würdest. Du weißt schon, hin und wieder ohne bestimmten Grund mal eine Karte. Sie findet deine Karten lustig und mag, wie du schreibst. Sie bewahrt sie in einer Schublade im Schlafzimmer auf. Manche sind noch aus der Zeit, als du zum College gingst.«
»Gut.«
»Hin und wieder mal, verstehst du? Schick einfach mal was.«
»Okay.«
Sie waren an Seans Auto angekommen und sein Vater schaute zu den dunklen Fenstern seiner Doppelhaushälfte hoch.
»Ist sie schon im Bett?«, erkundigte sich Sean.
Sein Vater nickte. »Sie fährt Mrs. Coughlin morgen früh zur Krankengymnastik.« Sein Vater ergriff unvermittelt Seans Hand und schüttelte sie. »War schön.«
»Ja.«
»Kommt sie zurück?«
Sean brauchte nicht zu fragen, wen er meinte.
»Keine Ahnung. Wirklich nicht.«
Sein Vater sah ihn im schwachen gelben Schein der Straßenlaterne an und
Weitere Kostenlose Bücher