Mystic River
sie.
»Vielleicht.« Jetzt musste er mit den Achseln zucken. »Ich hab so manches im Blut. Heißt ja nicht, dass es rauskommen muss.«
»Ich bin dir gegenüber nicht voreingenommen. Wirklich nicht.« Weder aus ihrer Miene noch aus dem Klang ihrer Stimme ließ sich etwas ablesen. Jimmy fragte sich, was sie wohl von ihm hören wollte – dass er es immer noch machte? Dass er es nicht mehr machte? Dass er sie reich machen würde? Dass er nie wieder ein Verbrechen begehen würde?
Aus der Ferne betrachtet, wirkte Annabeths Gesicht unauffällig, fast unscheinbar, aber wenn man nah vor ihr stand, sah man vieles darin, was unergründlich schien. Man begriff, dass ihr wacher Geist ständig in Aktion war.
»Ich meine, dir liegt doch das Tanzen im Blut, oder?«
»Keine Ahnung. Schätze schon.«
»Aber weil dir jetzt einer gesagt hat, du sollst es lassen, hast du damit aufgehört, oder? Es tut vielleicht weh, aber du kommst damit klar.«
»Ja, aber …«
»Ja«, sagte er und ließ eine Zigarette aus der Schachtel gleiten, die auf der Steinbank zwischen ihnen gelegen hatte. »Ja, also, ich war gut in dem, was ich gemacht habe. Aber ich hab Ärger gekriegt, meine Frau ist gestorben und das hat meine Tochter fertig gemacht.« Er zündete sich die Zigarette an und atmete langsam aus, wobei er sich bemühte, es genau so zu sagen, wie er es schon hundertmal in Gedanken geübt hatte. »Ich versau es meiner Tochter nicht noch mal, Annabeth, verstehst du? Wenn ich noch mal zwei Jahre sitzen müsste, das würde sie nicht durchhalten. Meine Mutter? Die ist nicht mehr auf dem Damm. Wenn sie stirbt, während ich sitze? Dann nehmen sie mir die Kleine weg, entziehen mir das Sorgerecht oder stecken sie in irgendso ‘nen Knast für Kinder. Das könnte ich nicht ertragen. Und deshalb: Schluss. Im Blut oder nicht, kümmert mich nicht, ich bleibe sauber.«
Jimmy sah ihr in die Augen, sie musterte sein Gesicht. Er merkte, dass sie nach Lücken in seiner Erklärung, nach dem Geruch von Scheiße suchte, und er hoffte, dass es ihm gelungen war, seinen Text überzeugend klingen zu lassen. Er hatte ihn lange genug geübt, sich gründlich auf diesen Moment vorbereitet. Und was er gesagt hatte, war zum größten Teil wahr. Er hatte nur eins ausgelassen, was er sich geschworen hatte, niemals jemandem zu erzählen, niemandem. Und so schaute er Annabeth in die Augen, wartete, dass sie die richtige Entscheidung fällte, und versuchte die Bilder von jener Nacht am Mystic River zu verdrängen – die Bilder von dem vor ihm knieenden Mann, dem die Spucke das Kinn hinuntergelaufen war, sein kreischendes Betteln –, Bilder, die wie Bohreraufsätze versuchten, sich in seine Gedanken zu drehen.
Annabeth nahm eine Zigarette. Er zündete sie ihr an und sie sagte: »Ich war mal unglaublich verknallt in dich, weißt du das?«
Jimmy wich ihrem Blick nicht aus, schaute sie ruhig an, obwohl die ihn durchströmende Erleichterung einer Druckwelle glich – er hatte seine Halbwahrheit verkauft. Wenn es mit Annabeth klappte, würde er sie nie wieder erzählen müssen.
»Ohne Scheiß? Du in mich?«
Sie nickte. »Wenn du bei uns vorbeikamst, um dich mit Val zu treffen, mein Gott, wie alt war ich da, vierzehn, fünfzehn? Jimmy, du glaubst es nicht, da fing immer alles an zu kribbeln, wenn ich nur deine Stimme in der Küche hörte.«
»Scheiße.« Er berührte ihren Arm. »Jetzt kribbelt es nicht.«
»Oh, doch, Jimmy. Oh, doch.«
Und Jimmy merkte, wie der Mystic River davonrauschte, in die schmutzigen Tiefen des Pen-Kanals strömte, von ihm wegfloss und in die Ferne entschwand, wo er hingehörte.
Als Sean zum Joggingpfad zurückkehrte, traf er dort die Frau von der Spurensicherung. Whitey Powers funkte gerade alle Beamten am Tatort an und gab Anweisung, jeden Penner im Park aufzulesen und ihn in U-Haft zu nehmen, dann hockte er sich neben Sean und die Technikerin.
»Die Blutspuren führen in die Richtung«, sagte sie und wies in die Tiefe des Parks. Der Joggingpfad verlief über eine kleine Holzbrücke, wand sich durch einen stark bewaldeten Teil des Parks und führte schließlich um den alten Autokinoparkplatz am anderen Ende herum. »Da hinten ist noch mehr!« Sie zeigte mit ihrem Stift darauf und Sean und Whitey blickten sich um und entdeckten im Gras auf der anderen Seite des Weges bei der kleinen Holzbrücke kleinere Blutstropfen, die durch das Blattwerk eines großen Ahorns vor dem Regen der vergangenen Nacht geschützt worden waren. »Ich glaube, sie
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