Mystic River
vorknöpfen, dass er hinterher blaue Flecken habe.
Esther sah ihren Sohn an. »Das wolltest du mir antun? Hä?«
»Ma, hör zu …«
»Hör was? Was soll ich hören, hä? Was hab ich Schlimmes getan? Hä? Was hab ich getan, außer dich großgezogen, dich gefüttert und dir Weihnachten dieses Saxophon gekauft, das du nie gelernt hast? Das fliegt immer noch im Schrank rum, Brendan.«
»Ma …«
»Nein, hol das mal raus! Zeig den Männern hier mal, wie toll du spielen kannst. Los, hol’s raus!«
Whitey sah aus, als könne er nicht glauben, was sich vor ihm abspielte.
»Mrs. Harris«, sagte er. »Das ist nicht notwendig.«
Sie zündete sich die nächste Zigarette an, das Streichholz zitterte vor Zorn. »Ich hab ihn immer gefüttert. Hab ihm Anziehsachen gekauft. Hab ihn großgezogen.«
»Ja, Ma’am«, antwortete Whitey, als die Eingangstür aufging und zwei Kinder mit Skateboards unter dem Arm hereinkamen, beide um die zwölf, dreizehn Jahre. Der eine war Brendan wie aus dem Gesicht geschnitten – genauso hübsch und mit dem gleichen dunklen Haar –, aber in seinen Augen hatte er dieselbe unheimliche Leere, die seine Mutter umgab.
»Hey!«, sagte der zweite Junge beim Betreten der Küche. Wie Brendans Bruder wirkte er klein für sein Alter, aber er war mit einem langen, eingefallenen Gesicht gestraft, dem Gesicht eines hämischen alten Mannes auf dem Körper eines Kindes, das unter strähnigen blonden Haaren hervorlugte.
Brendan Harris hob die Hand. »Hey, Johnny! Sergeant Powers, Trooper Devine, das ist mein Bruder Ray und das ist sein Freund Johnny O’Shea.«
»Hallo, Jungs!«, sagte Whitey.
»Hallo«, erwiderte Johnny O’Shea.
Ray nickte ihnen zu.
»Der kann nicht sprechen«, erklärte die Mutter. »Sein Vater konnte das Maul nicht halten und sein Sohn kriegt es nicht auf. O ja, das Leben ist gerecht.«
Ray sagte etwas in Gebärdensprache zu Brendan, der darauf antwortete: »Ja, sie sind wegen Katie da.«
Johnny O’Shea verkündete: »Wir wollten im Park Skateboard fahren. Der war gesperrt.«
»Morgen ist er wieder auf«, erklärte Whitey.
»Morgen soll’s regnen«, entgegnete der Junge, als wären die Männer schuld, dass man um elf Uhr abends unter der Woche nicht Skateboard fahren konnte, und Sean fragte sich, was für Eltern so etwas bei ihren Kindern durchgehen ließen.
Whitey wandte sich wieder an Brendan. »Wissen Sie von irgendwelchen Feinden? Irgendjemand, der, abgesehen von Bobby O’Donnell, sauer auf sie gewesen sein könnte?«
Brendan schüttelte den Kopf. »Sie war lieb, Sir. Sie war einfach ein sehr, sehr lieber Mensch. Alle mochten sie. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll.«
Der kleine O’Shea fragte: »Können wir gehen?«
Whitey zog die Augenbraue hoch. »Hat’s euch jemand verboten?«
Johnny O’Shea und Ray Harris verließen die Küche und man konnte hören, wie sie die Skateboards im Wohnzimmer fallen ließen, ins Zimmer von Brendan und Ray gingen und dort herumkalberten wie alle Zwölfjährigen.
Whitey fragte Brendan: »Wo waren Sie zwischen halb zwei und drei heute Morgen?«
»Im Bett.«
Whitey sah die Mutter an. »Können Sie das bestätigen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Kann nicht bestätigen, ob er nicht aus dem Fenster gestiegen und die Feuerleiter runtergeklettert ist. Kann bestätigen, dass er um zehn in sein Zimmer gegangen und heute Morgen um neun wieder rausgekommen ist.«
Whitey streckte sich. »Gut, Brendan. Wir müssen Sie bitten, sich einem Lügendetektor-Test zu unterziehen. Sind Sie dazu bereit?«
»Wollen Sie mich verhaften?«
»Nein. Wir möchten nur, dass Sie diesen Test machen.«
Brendan zuckte mit den Achseln. »Klar.«
»Und hier, meine Karte.«
Brendan betrachtete die Visitenkarte und sagte: »Ich hab sie so geliebt. Ich … das werd ich nie mehr fühlen. Ich meine, so was gibt’s doch kein zweites Mal, oder?« Er schaute Whitey und Sean an. In seinen Augen standen keine Tränen, in Brendans Blick lag so viel Schmerz, dass Sean am Liebsten davongelaufen wäre.
»Meistens gibt’s so was nicht mal ein Mal«, erwiderte Whitey.
Gegen ein Uhr nachts setzten sie Brendan vor seiner Wohnung ab. Er hatte den Lügendetektor-Test viermal mit Bravour bestanden. Anschließend fuhr Whitey Sean nach Hause, sagte ihm, er solle bald schlafen gehen, sie würden morgen in aller Herrgottsfrühe wieder loslegen. Sean betrat seine leere Wohnung, hörte das Summen der Stille und spürte den Bodensatz von Koffein und Fastfood in seinem
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