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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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stimmt, meinte er dann. Keiner kann wirklich mit den Toten reden.
    Ich kann es aber, sagte ich. Und ich erzählte ihm ein bisschen über die Zeremonien, die mir Ten Trees, Painted Horses und Sitting Bull beigebracht hatten, als ich ein kleines Mädchen war. Ich erzählte ihm von unserer Pfeife und unseren Steinen. Ich erzählte ihm, wie junge Männer und manche Mädchen in die Berge gebracht werden, wo sie um Visionen bitten. Ich erzählte ihm, dass ich in meinen Visionen den weißen Adler gesehen hatte. Der Adler bringt unsere Gebete zu Wakan Tanka, dem Großen Geist, dem Großen Geheimnis. Dann erzählte ich ihm von Wovoka und dem Geistertanz und wie ich während des Tanzes losging und viele Male mit meinen Toten sprach.
    Caleb blinzelte und sagte, ich solle es ihm zeigen.
    Im Mondlicht auf dem Felsen zeigte ich Caleb meine Steine und Ten Trees’ Pfeife, und ich ließ ihn daraus rauchen. Dann tanzte ich den Geistertanz und sang die Geisterlieder. Stundenlang sang und tanzte ich, bis die Augustsonne den Mond verdeckte und Caleb ein weißer Fleck auf dem Felsen wurde. Es war, als weinten die Zikaden in mir. Dann wurde das Sonnenlicht zu grünem Regen, und Painted Horses schritt daraus hervor in ihrem Lieblingsmantel aus Büffelfell. Sie öffnete den Mantel, und ich presste mich an sie und fühlte, wie sich ihre starken Arme um mich schlossen. Dann roch ich Ten Trees hinter mir und spürte, wie auch er die Arme um mich legte.
    Hab keine Angst, flüsterte er mir zu.
    Als ich aufwachte, beugte sich Caleb über mich, schniefend und brabbelnd. Die Sonne stand fast genau über uns am Himmel. Ich fuhr mir mit der Zunge über meine trockenen Lippen und schmeckte Salz. Ich hob die Hand und legte sie auf Calebs Arm. Zuerst machte er erschrocken einen Satz rückwärts, dann lachte er und konnte kaum aufhören und sagte, er habe gedacht, ich würde ihm sterben. Er sagte, ich hätte erst so herrlich getanzt und gesungen, dass er meinte, eine andere Welt in mir zu sehen. Und dann hätte ich furchtbar zu keuchen begonnen. Die Augen seien mir aus dem Kopf getreten. Caleb sagte, ich sei vornüber zu Boden gefallen und habe nicht mehr geatmet. Die Zunge sei mir nach hinten in die Kehle gerutscht, und er habe mein Herz nicht mehr hören können.
    Ich weiß nichts mehr. Genauso wie damals, als wir in Standing Rock tanzten. Die Leute erzählten uns hinterher immer, was unsere Körper getan hätten, nachdem unsere Seele auf die andere Seite hinübergegangen war.
    Caleb wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus. Dann bekam er ganz große Augen, und seine Haut wurde so rosa wie Forellenfleisch. Er hatte seine Hände ausgestreckt und sah sie an, als wären es neue Hände. Und er sagte, als ich dagelegen hätte, sei die Luft nicht heiß und stickig gewesen, sondern kalt und habe wie Pfeffer gerochen, wie im Oktober, wenn die Blätter sich verfärben. Er fragte mich, ob es so wäre – kalt und pfeffrig, aber gut –, wenn man stirbt.
    Ich schüttelte den Kopf und sagte Caleb, dass das Sterben nicht so ist wie in den Gedichten, die wir bei Miss Mary Parker gelesen hätten. Sterben ist eine ziemlich üble Geschichte mit Haut und Knochen und Blut. Sterben ist grausam und hart wie ein Blizzard, der einen verschluckt. Doch dann ist es vorbei, und dein Geist ist an einem Ort, von wo aus er immer noch sehen und die Lebenden beobachten kann. Wie eine Insel in einem Fluss. Der Geist geht noch weiter. Aber die Insel ist der Ort, wo sich beide, die Lebenden und die Toten, sehen und umschlungen halten können. Ich sagte Caleb, dass es vielleicht das gewesen sei, was er gerochen und berührt hatte – die Insel im Fluss zwischen zwei Welten.
    Caleb starrte mich lange mit offenem Mund an. Seine Haut brannte allmählich in der Sonne. Er legte mir die Hand auf die Schulter, und ich mochte es nicht. Seit dem Soldaten mit den schwarzen Zähnen mag ich nicht, wenn Männer mich anfassen. Er fragte mich, ob ich ihn lehren könne, mit den Toten zu reden, und ich sagte nein. Calebs Finger gruben sich in meine Haut. Er fragte, warum nicht. Er sagte, wir seien doch Freunde, und er fragte mich, warum jemand seinen Freund davon abhalten wolle, mit seiner Mutter zu reden.
    Ich wusste nicht sofort, was ich darauf sagen sollte. Doch Ten Trees, Painted Horses und Sitting Bull hatten mir immer gesagt, dass die Pfeife und die Steine und die Zeremonien allein uns gehörten und dass sie an die mit reinem Herzen mit Vorsicht weitergegeben werden müssten. Und jedes reine

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