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Mystic

Mystic

Titel: Mystic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark T. Sullivan
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Jungfrau war«, sagte Andie mit einem schwachen Lächeln. »So hatte ich mir das nicht gerade vorgestellt. Und ich hörte lange Zeit danach nichts mehr von ihm.«
    Andie holte tief Luft und enthüllte den Rest ihrer Geschichte so, wie eine Frau mit Höhenangst sich dem Rand des Grand Canyon nähern mag. Kerris rief sie Ende August aus heiterem Himmel an, um sie zu einer dritten Party nach dem Spiel der Vermont and New Hampshire Football-All-Stars einzuladen. Andie sagte ihren Eltern, sie verbrächte die Nacht bei einer Freundin.
    Kerris drückte ihr einen Drink in die Hand, sobald sie in die Ferienwohnung trat, die ein paar seiner Freunde im Skigebiet oberhalb von Lawton gemietet hatten. Und jedes Mal, wenn ihr Glas leer war, füllte er es sofort wieder.
    »Ich weiß noch, wie ich tanzte, alles war so schimmernd und lustig«, sagte Andie. »Dann trübte sich der Glanz, und es wurde dunkel. Mike war mit mir auf einem Bett in einem der hinteren Räume.«
    Sie hielt inne. Ihr Kinn zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Du brauchst mir das nicht zu erzählen, wenn du nicht willst«, sagte Gallagher.
    »Es waren noch mehr Jungs im Zimmer, sie –«, schluchzte Andie. »Olga sah mich, wie ich durch die Straßen der Stadt lief. Ich hatte nicht allzu viel an. Bis heute weiß ich nicht, wie ich da hingekommen bin.«
    Der Hass, der zwischen ihr und Kerris beim Haus des Bibliothekars aufgeflackert war, trat wieder auf ihr Gesicht.
    »Hast du damals Anzeige erstattet?«, fragte Gallagher.
    »Ich ging zur Polizei, aber –« Andie hielt inne. »Du kennst Lawton nicht. Die Powells haben hier immer schon das Sagen gehabt. Sie sind wie die Kennedys. Wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckt, halten sie alle zusammen.«
    Kerris’ Onkel Bruce, damals der örtliche Staatsanwalt und jetzt ein geachteter und wohlhabender Rechtsanwalt in Lawton, ging zu Andies Vater und überredete ihn, Andie davon zu überzeugen, dass ein öffentliches Verfahren nur einer Menge junger Leute schaden würde, die das ganze Leben noch vor sich hätten. Als Gegenleistung dafür, dass die Anzeige zurückgezogen wurde, trafen sie eine Vereinbarung. Die Powells wollten Andies Ausbildung vollständig bezahlen. Kerris würde Vermont verlassen und nach Chile gehen, um dort in einem Wintersportort im Betrieb eines Freundes der Familie als Skilehrer zu arbeiten.
    »Er blieb sechs oder sieben Jahre da unten«, sagte Andie. »Aber das, was er getan hatte, verfolgte mich Tag und Nacht. Ich versuchte, meinen Zorn zu kompensieren, indem ich Polizistin wurde. Doch manchmal überkam es mich, und ich erinnerte mich daran, wie hell die Welt an jenem Abend war; und so verquer es auch klingt, genehmigte ich mir dann ganz allein ein paar Drinks, um zu fühlen, wie es vorher gewesen war.«
    Andie saß im Schaukelstuhl neben dem Ofen, zog die Füße unter die Oberschenkel und räusperte sich. Und räusperte sich noch einmal.
    »Wie zum Teufel konnte Kerris denn überhaupt Polizeichef hier im Ort werden?«, fragte Gallagher.
    »Auf die Powell’sche Weise«, antwortete sie und zuckte die Achseln. »Die Familie fand, sieben Jahre Exil seien genug, und sie besorgten ihm einen Platz an der Polizeischule drüben in Pittsford. Er war zwei Jahre lang einfacher Polizeibeamter in Lawton; dann sorgte der Bürgermeister dafür, dass sein Vorgesetzter ging. Jetzt vertritt der Anführer meiner Vergewaltigung Recht und Gesetz hier in der Stadt.«
    Ihre Augen röteten sich. Sie barg das Gesicht in den Händen, und ihre Schultern zuckten. Gallagher schoss ein Bild von seiner Exfrau in derselben niedergeschlagenen Haltung durch den Kopf. »Andie?«
    »Was denn?«, murmelte sie.
    »Es tut mir leid, dass ich vorhin so abweisend reagiert habe.«
    Er ging zu ihr hinüber, seine Hände zitterten, bevor sie sich auf ihre Schultern legten. Sie roch nach frisch gefallenem Laub. Eine Ader pochte sanft in ihrem Nacken. Er küsste sie auf die Ader, dann erfasste ihn Panik beim Anblick des riesigen Lochs, das sich vor ihm auftat. Sie musste den gleichen gähnenden Abgrund gesehen haben, denn die Muskeln zwischen ihrem Nacken und ihren Schultern verspannten sich, und ihre Hand zitterte, als sie sie ausstreckte, um seine Wange zu streicheln.
    »Ich habe …«, sagte Andie, sehr sanft und sehr verwundbar. »Ich habe es seither nicht mehr gemacht.«

25
    Montag, 19 . Mai
    Durch die regennassen Scheiben von Andies Schlafzimmer sah Gallagher, wie ein Schwarm Amseln in einer Baumgruppe

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