Mystik des Herzens
Ausspruch ihr Alter ein wenig ironisiert wird, und erklärte sich bereit, wenn auch nicht ohne Bangen, diese Frau zu sehen. Nach dieser Begegnung wollte sich Sigewiza nicht mehr von Hildegard trennen, sondern in Hildegards Kloster bleiben. Man nahm sie auf, auch wenn sie weiterhin lästerte, herumschrie, demolierte und den Schwestern viel Irritation bereitete. Aber sie nahmen sie auf, nahmen sie schlicht in ihre benediktinische Tagesordnung mit hinein, in das ora et labora mit den Stundengebeten, mit den Gottesdiensten. Nach einigen Monaten, als die Fastenzeit und Ostern nahte, begann sich der Lästerzwang zu lösen: den Karfreitagsgottesdienst konnte sie schließlich ganz ergriffen mit vollziehen. Nun wurde Sigewizas Wunsch laut, sich den Schwestern anzuschließen und im Kloster zu bleiben. Nach Abstimmung mit ihren Nonnen hat Hildegard sie nicht ohne Bangen, aber doch mit Vertrauen aufgenommen. Sigewiza ist offensichtlich nicht mehr psychotisch geworden.
Auch dies ist unter heutiger Perspektive als nicht unmöglich zu erachten, weil die geordnete Gemeinschaft mit ihrem strukturierten Tagesablauf, mit ihrem spirituellen Zentrum im Gottesdienst, mit den Ritualen und Gebärden durchaus heilsam wirken konnte. In den therapeutischenWohngemeinschaften heute können wir so etwas nur annähernd nachgestalten. Sigewiza war den Benediktinerinnen im Glauben verbunden. Sie konnte sich aus ihrer psychischen Fragmentierung, in die sie verfallen war, wieder befreien und sich »Schrumpelgardis« voll anvertrauen. Der Bericht hierüber kommt mir glaubwürdig vor. Es ist auch ein größerer zeitgenössischer Briefwechsel über den »Fall Sigewiza« erhalten. 31
Hildegard war, wie wir sahen, mit einer starken Fähigkeit zur Imagination begabt, die sich gelegentlich bis zur Vision steigern konnte. Möglicherweise waren ihr auch deshalb die genannten Übungen des Sehens und Vorstellens nicht fremd, die sie zur Heilung einsetzte. Die seherische Begabung bestimmte ihr ganzes Sein. Hildegard kann deshalb als eine Anregerin für alle diejenigen gelten, die sich im Imaginieren üben und von da aus zu einer tiefen Erfahrung ihrer selbst und vielleicht auch einer spirituellen Erfahrung gelangen können. Eine solche ist im Grunde jedem Menschen möglich. Es ist dabei nicht nötig, mit komplizierten und hochgestochenen Bildmotiven anzufangen, sondern man kann mit der Vorstellung eines grünen Baumes oder einer Wiese oder eines Sees zu imaginieren beginnen, und dies kann – es muss nicht, es kann – in eine tiefe Ganzheitserfahrung einmünden. Imagination ist ein legitimer klassischer Weg zur religiösen Erfahrung. Es ist auch möglich, über die gesehenen Bilder zur Gestaltung dieser Bilder fortzuschreiten, zum Malen der Imagination und dabei zu intensiver innerer Erfahrung zu gelangen. Auch den Buchmalern und Buchmalerinnen ihrer Zeit gelang es, die Visionen Hildegards in außergewöhnliche Bilder zu verwandeln, die ihrerseits zur Meditation anregen. 32
Dessen ungeachtet, war Hildegard nicht primär Visionärin in einer stillen Kammer, sondern Äbtissin eines großen Klosters, später mehrerer Klöster. Das erfordert Geistesgegenwart,Fähigkeit zur Seelsorge, aber auch zur Verwaltung. Zwei große Abteien hat sie in eigener Regie erbauen lassen, angefangen von der Rodung des bewaldeten Rupertsbergs, mit Anlagen von Wasserleitungen – und dies im 12. Jahrhundert! Eine Frau von ungewöhnlichem Format, bei der zarteste Seiten mit großer Energie zusammentreffen, war Hildegard.
Hildegard ist als Seherin zugleich Mystikerin. Sie erfährt und vertritt eine Mystik, die sich charakteristisch von eines Meister Eckarts unterscheidet, aber auch von der einer Teresa von Avila, obgleich auch diese mit Kontemplation und Bildern arbeitet, z.B. mit dem Symbol einer »inneren Burg«. Wir werden noch von ihr hören. Aber das Besondere der Mystik Hildegards ist, dass sie nicht die Verbindung der einzelnen Seele zu Gott zum Hauptthema hat, obgleich ihr das eine Selbstverständlichkeit ist. Aber darüber schreibt sie nicht, das ist ihr fast zu intim. Hildegard ist eine sehr sachliche Frau. Sie schreibt über ihre natur- und heilkundlichen Werke hinaus von ihrer Vision des Kosmos. Damit kann sie gerade uns Heutige ansprechen. In ihrer Schau sieht sie kosmische Zusammenhänge, nicht im Sinne heutiger Naturwissenschaft, natürlich, sondern einer intuitiven ganzheitlichen Vorstellung. Es macht einen Unterschied für meinen existentiellen Ort im Kosmos, von
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