Mystik des Herzens
und der Moral gestanden habe, jetzt aber von der Liebe selbst aus der Knechtschaft befreit worden sei. Dieser Übergang wird dadurch angezeigt, dass in der Mitte des Textes die Rede in ein Gedicht, in einen Gesang übergeht:
»›Ich bekenne euch, Frau Liebe‹, spricht diese Seele, ›es gab eine Zeit, da war es so, doch steht es jetzt damit anders. Euer Adel, Frau Liebe, hat mich aus ihrer Knechtschaft befreit, und deshalb kann ich jetzt zu ihnen sagen und singen: Tugenden, ich nehme Abschied von euch auf immer.‹« 18
Doch jetzt geht es weiter:
»Mein Herz ist nun ganz unbelastet und recht hochgemut. Der Dienst an euch war zu sehr festgefahren, ich weiß es wohl. Eine Zeitlang hängte ich mein Herz an euch, also an die Tugenden, ohne Vorbehalt. Ihr wisst, dass ich euch ganz gehörte, ich war eure Leibeigene. Nun bin ich daraus befreit. Entkommen bin ich aus eurer Gewalt. In Frieden verbleibe ich nun.« 19
Wie die vor der Liebe zu Nichts gewordene und zugleich ganz erfüllte Seele, braucht diese Seele die Tugenden nicht mehr, so wie sie auch der Tröstungen der Kirche und der einzelnen Gaben Gottes nicht mehr so sehr bedarf. Wer mit dem Geber selbst in Liebe verbunden ist, braucht sich um die einzelnen Gaben nicht mehr zu sorgen.
Es ist wie in der Liebe unter Menschen. Wer in der Liebe miteinander verbunden ist, der braucht keine Probleme mit Geschenken füreinander zu haben oder braucht sich das nicht mehr in Geld und Gut auszahlen zu lassen, was er für den anderen tut.
An vielen Stellen der mystischen oder biblischen Tradition überhaupt wird dies hervorgehoben: Gott sei nicht um seiner Gaben willen zu lieben, sondern um seiner selbst willen. Damit macht Marguerite Porète ganz ernst. Wie schon die erotische Liebe den Geliebten meint und nicht dessen Gaben, so wie sie immer ein Mehr über all ihre Begründungen hinaus hat, so hat »das Herz seineGründe, die die Vernunft nicht kennt« (Pascal). So erst recht diese » amour fou« , wie Marguerite Porète sie immer wieder nennt, diese »verrückte Liebe«, die sie auf Gott richtet, auf den fern-nahen Geliebten, den Loin-Près . Weil diese Seele ganz auf Gott ausgerichtet ist, kann sie sich nicht mehr um ihre eigenen Ansprüche an Gott kümmern, wie wenn ich, wenn ich in einer Liebe auf einen Menschen ausgerichtet bin, mich nicht mehr um meine Erwartungen an ihn kümmern kann. Meine Liebe will ihn selbst mehr als alle Vorstellungen und Erwartungen an ihn. Das wussten schon die Troubadoure.
Der Zustand der »einfach gewordenen« Seele, die alles allein aus ihrer »divine amour« heraus bezieht, wird von Marguerite Porète als »foi sans œuvre« 20 , als »Glauben ohne Werke« bezeichnet. Hier fällt der Ausdruck, der zum späteren Leitspruch für Luthers Reformation wurde, mehr als 300 Jahre später, zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Noch sind wir im 13. Jahrhundert. Es ist hochinteressant, dass Marguerite Porète hier eine Aussage macht, die auf die reformatorische Entdeckung der »Rechtfertigung allein aus Glauben«, ohne »des Gesetzes Werke«, voraus deutet. Nun spricht Marguerite als Frau nicht von »Rechtfertigung«, wenn es um die Beziehung des Menschen zu Gott geht, spricht nicht in juristischen Termini, sondern allein in Beziehungstermini, wie sie der Liebe gerecht werden. Nicht von Rechtfertigung allein aus Glauben, sondern von Angenommensein, von Zugehörigkeit allein aus Liebe spricht sie. Das macht den Menschen recht vor Gott. Überhaupt wäre die Wirkung Marguerite Porètes eine Untersuchung wert. Ihre Wirkung zum Beispiel auf Meister Eckart, der ihr Buch mit Sicherheit kannte, aber auch auf Johannes Tauler, der viele ihrer Gedanken aufnahm und wiederum den jungen Luther inspirierte. Ihr Denken hat Geschichte gemacht, so wie auch sie wichtigeGedanken von Augustin übernehmen konnte. All diese Bereiche, auch der Einfluss Marguerite Porètes auf die Reformation und die reformatorische Spiritualität sind nicht erforscht. Die reformatorischen Kirchen haben sich im Blick auf die Mystik stark zurückgehalten, obgleich Luther von ihr noch stark berührt war. Im Kirchenlied vor allem scheint mir die Mystik der Reformation ihre Blüte zu haben: Ich nenne nur Schütz und Bach, Tersteegen und Paul Gerhardt.
Die Freiheit jeder Art von religiösem Nützlichkeitsdenken, die Liebe »ohne Warum« (»sunder warumbe«), verbindet Marguerite Porète vielleicht am tiefsten mit Meister Eckart, dem Zeitgenossen, der ihr Buch spätestens kurz nach ihrem Tod
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