Mystik des Herzens
zu ihrem Buch »Die Hinreise« zu lesen: »Die Reise ist ein altes Bild für die Erfahrung der Seele auf dem Weg zu sich selbst.« Und sie fährt fort:
»In der mystischen Literatur durch die Zeiten finden wir oft das Bild der Reise, auch als Hinreise und Rückreise verstanden. Die Hinreise, die in Meditation und Versenkung angetreten wird, ist als Hilfe der Religion auf dem Weg der Menschen zu sich selbst betrachtet. Christlicher Glaube akzentuiert dann allerdings die Rückreise in die Welt und in ihre Verantwortung ebenfalls stark. Aber es braucht eine tiefere Vergewisserung als die, die wir im bloßen Handeln erlangen. Eben die Hinreise.«
Die christliche Öffentlichkeit war damals überrascht über ein Buch von Dorothee Sölle, das ein Bekenntnis zur Notwendigkeit innerer Erfahrung war. Hatte man ihr doch unterstellt, die Spiritualität außer Acht zulassen und nur noch im politischen Engagement aufzugehen. Vom christlichen Glauben bliebe ihr nur noch die Ethik übrig. Jedoch: Die tiefere Begründung und Vergewisserung für alles ethische Handeln, das Sölle aus christlicher Motivation heraus unabdingbar war, ist für sie »die Hinreise«, die in Meditation und Versenkung angetreten wird, als Erfahrung der Seele auf dem Weg zu sich selbst und zu Gott. In diesem schmalen Buch bekennt sie sich öffentlich und zum ersten Mal zum eigentlichen Hintergrund ihres leidenschaftlichen Engagements für Gerechtigkeit in der Welt, für ihren politischen Einsatz, der unter anderem der Friedensbewegung, der Umweltbewegung und dem Eintretenfür eine gerechte Weltwirtschaft galt. Eben dies war ja auch die Idee des Politischen Nachtgebets von Köln gewesen, das auch ökumenisch, z.B. durch Katholiken wie Heinrich Böll, mitgetragen und ausgerichtet war. Hier wurde nicht einfach Politik gemacht, sondern man trug politische Ereignisse gleichsam »vor Gott«, um sie im Gebet zu bedenken und von hier aus eine Basis für künftiges öffentliches Handeln zu finden. Sölle bekennt sich hier zu der eigentlichen Basis ihrer unbeugsamen Kraft zum Widerstand gegen das Unrecht in der Welt: die Mystik.
27 Jahre später, im Jahre 1997, in dem sie ihr 68. Jahr erreicht, veröffentlicht sie schließlich ihr großes Buch »Mystik und Widerstand. Das stille Geschrei«, dessen These, auf dem Cover des Buches beschrieben, lautet: Die Religion des dritten Jahrtausends werde mystisch sein oder absterben. Der Gedanke wird heute nicht nur von ihr allein vertreten. So entwirft sie aus dieser Überzeugung heraus die Grundzüge einer demokratisierten Mystik, einer ganz neuen Vorstellung. Zugleich weist sie Mystik als das antiautoritäre Element in jeder Religion nach.
Die Frauen, die ich hier als Mystikerinnen vorgestellt habe, besaßen eine eigentümliche innere Freiheit. Nicht, dass sie in erster Linie gegen die Kirche oder irgendeine kirchliche Autorität aufgestanden wären, sondern sie waren als Ergriffene so unablenkbar auf ihrem Weg, dass man sie nicht mehr davon abbringen konnte, auch wenn darüber manche uralte Regeln der Kirche und der Rechtgläubigkeit über Bord gingen.
Damit hängt zusammen, dass für Sölle die Mystik nur unter Einbeziehung der jeweiligen sozialen Realität vorstellbar ist, oft genug nur als Widerstand gegen den Status quo: worunter sie nicht primär die Institution Kirche versteht, das war gar nicht ihre Zielrichtung, sondern in erster Linie den Zustand unserer Welt, im politisch-sozialen, im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich. Dieletzte Demonstration, an der ich sie teilnehmen sah, war die bei der Entschuldungskampagne für die Länder der Dritten Welt während des Evangelischen Kirchentags in Stuttgart. Nach Sölles Auffassung ist es unmöglich, tatenlos zuzusehen, wenn die Vorgänge in der Welt aus dem Ruder laufen. Deshalb ist Mystik für sie zugleich Basis und Quelle für Widerstand. Es ging ihr darum, gerade aus der Mystik Kraft zu gewinnen für wirklich unbeirrbares und unabhängiges Handeln in der politischen Welt.
Dabei weist sie viele mögliche Orte mystischer Erfahrung in unserem Leben auf.
In erster Linie ist das bei ihr die Natur. 6 Hier erleben wir »Orte der Ortlosigkeit«. Ein Beispiel hierfür ist vielleicht das folgende kleine Erlebnis: Wenn sich auf einmal ein stilles Leuchten über den See legt, ein stilles Leuchten, bis die Dunkelheit ihn aufnimmt, da kann man plötzlich innehalten, und es überkommt einen ein Staunen, in dem die Transparenz des Himmels wie des Wassers auf einmal
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