Mystik des Herzens
die wir hier vorgestellt haben. Nun, ich behaupte nicht, dass sie eine Teresa von Avila war oder eine Hildegard von Bingen, doch war es ja gerade ihr Anliegen, dass Mystik etwas für uns alle sei, nicht nur für überragende dafür Begabte. Ihre Vorstellung war die von einer »Demokratisierung« der Mystik, so dass jeder und jede auf ihre Weise einen Zugang zur Mystik finden könne. Das habe ich auch in diesemBuch zu erweisen versucht, indem ich aus dem mystischen Erfahrungsschatz dieser großen Frauen jeweils auch einige einführende Übungen entnahm, auf die ich im letzten Kapitel hinweise und die wir alle nachvollziehen können.
»Wir sind nicht nur die, die wir kennen, die wir zu sein glauben. Wir sind alle fähig, anders zu sein, wir können uns selber verlassen, wir sind der Versenkung und der Transzendenz fähig.« 2
Dorothee Sölles großes Anliegen war, dass Mystik ein erfahrungsmäßiger Zugang für alle und damit auch für die sogenannten Atheisten sei, sprach sie doch davon, dass es auch die Möglichkeit gebe, »atheistisch an Gott zu glauben«. 3 Im Grunde bedeutet Atheismus nur, dass einer im Moment keine konkrete Vorstellung von Gott hat. Da wir aber eigentlich gar keine Bilder von Gott haben sollen, bleibt das, was mit »Gott« gemeint ist, in jedem Fall ein offenes Geheimnis. Nur dass da etwas ist in dieser Welt und in dieser Wirklichkeit, das größer ist als wir selbst und dem wir uns alle uns verdanken, das lässt sich nicht leugnen. Haben wir uns doch nicht selbst gemacht, sondern uns vorgefunden, wir sind uns gegeben, geschenkt oder auch zugemutet, jedenfalls haben wir uns nicht selbst kreiert. Für mich ist das eine der Grunderfahrungen, die mich über mich hinausführen.
So saß ich einmal an einem Seeufer und versuchte zu meditieren, als ich merkte, wie ich atme, wie mein Herz geht, dass ich mein Leben weder in der Hand noch selbst erfunden habe. Ich lebe darin wie in einem größeren Leben. Und seither spreche ich deshalb gern vom »Leben selbst«, wenn ich »Gott« meine und lasse im übrigen die Vorstellungen offen. Aber ich spreche »vom Leben selbst«, weil es dann ein Bezugsfeld gibt, das man unter Umständen auch per Du ansprechen kann.
Dorothee Sölle also als Mystikerin? Ihr großes letztes Buch, das sie ihr liebstes nennt, ihr Lebenswerk in nuce , trägt den Titel »Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei«, dessen letztes Kapitel eigentlich das über eine »Mystik des Todes« werden sollte. 1 Es ist ein Buch, das die Mystik zurückholt auch in die Kirchen der Reformation, aus denen sie verdrängt, wenn auch nie ausgewandert war, wenn wir an Luther, Böhme, Tersteegen oder Paul Gerhardt denken, vor allem anderen aber an Bach. Die Mystik der reformatorischen Kirchen scheint mir eine Mystik der Musik zu sein. Dorothee Sölles Verdienst ist es, mit ihrem Buch, das gegenwartsnah und aktuell geschrieben ist, die Mystik auch aus der Zeit vor und nach der Reformation wieder bewusst gemacht zu haben.
Vielleicht erinnern wir uns noch an das allgemeine Aufmerken und Verwundern, als im Jahr 1975 von Dorothee Sölle, der Mitbegründerin des »Kölner Politischen Nachtgebets« ein neues Buch, »Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung, Texte und Überlegungen« 4 herausgebracht wurde. Plötzlich hatte man ein Buch von ihr in der Hand, wie es niemand für möglich gehalten hatte, ein Buch über religiöse Erfahrung. Auch ich selbst war tief überrascht und habe das Buch so intensiv gelesen, dass es heute in drei Teile zerfleddert ist. Ich finde es bis heute schön, die Erstausgabe zu haben.
Dorothee Sölle war bis dahin vor allem als Verfechterin einer sogenannten »Politischen Theologie« bekannt geworden, die sie in ihren Veröffentlichungen über »Phantasie und Gehorsam«, über »Leiden«, aber auch in dem umstrittenen Buch über »Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes« vertrat. 5 Mitten hinein in die aufgeregte Debatte über »politische Theologie«, die viele Christen in Rechte und Linke, in Sölle-Gegner und Sölle-Freunde teilte, stellt sie ihr Buch über religiöse Erfahrung. War »religiöse Erfahrung« nicht bisher eher ein Anliegender Pietisten gewesen, so fragte man damals. Die Vertreter und Vertreterinnen einer politischen Theologie und die von einer pietistischen oder gar evangelikal Geprägten standen sich damals wie Feuer und Wasser gegenüber.
Wie aber meint sie das mit der »religiösen Erfahrung« Was versteht sie darunter? Einleitend steht
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