Mythica 06 - Goettin des Sieges
dich kümmern«, sagte Paris. Seine Wangen waren noch nass von den Tränen, und seine Stimme klang belegt. »Ich bin so froh, dass sie dich nicht umgebracht haben, kleine Xena.«
Genau wie bei Hektor hatte sie auch bei ihm das sichere Gefühl, dass er Polyxena liebte, und sie umarmte ihn spontan. »Danke«, flüsterte sie.
Paris hielt sie fest. »Es ist meine Schuld«, stieß er hervor. »Ich bin schuld, dass er tot ist – ich bin an dem ganzen Gemetzel schuld.«
Kat spürte Mitleid mit ihm. Er konnte nicht viel älter als zwanzig Jahre sein, und als er Helena den Griechen weggenommen hatte, war er wahrscheinlich dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen. Und diese beiden jungen Leute sollten schuld sein an einem Krieg, der sich seit fast einem Jahrzehnt hinzog? Auch wenn Kat Agamemnon und seine Kumpane nicht gekannt hätte, wäre ihr klargewesen, dass das absoluter Unsinn war. Sie schüttelte den Kopf und sah dem traurigen jungen Mann fest in die Augen. »Nein, Paris, der Krieg ist längst nicht mehr deine Schuld.«
»Komm, Liebster. Polyxena muss baden und sich ausruhen. Komm, mein Herz«, drängte Helena mit ihrer honigsüßen Stimme.
Noch immer schluchzend, nickte Paris und stolperte, gestützt von Helena, davon.
Kat betrat das Gemach, ohne dass seine Pracht sie im Geringsten berührte. Wie betäubt wartete sie auf die Dienerinnen, die nach wenigen Minuten eintrafen – ernste Frauen, die Kat mit Ehrfurcht behandelten und immer wieder in Tränen ausbrachen. Kat ließ sich von ihnen baden, salben und in eine einfache Seidenrobe hüllen. Sie ließen ihr Wein und etwas zu essen da, dann verschwanden sie flüsternd und schluchzend.
Seltsam unbeteiligt und unkonzentriert, wanderte Kat zu einem der großen Bogenfenster. Durchsichtige goldene Vorhänge schimmerten im Licht der Abendsonne rötlich, orange und gelb. Eine warme Brise trug die Geräusche des Kampfs zu ihr, und Kat trat hinaus auf einen Balkon direkt über den Mauern von Troja, von dem man einen sensationellen Blick auf das Schlachtfeld hatte. Doch sie schaute nicht hin, und sie lauschte auch nicht auf die Stimme, die alle anderen übertönte, sie ließ nicht zu, dass sie in dem Kampfgetümmel zweier Armeen die Schreie erkannte, die von dem Wesen stammten, das ihren geliebten Achilles in Besitz genommen hatte. Stattdessen blickte sie zum fernen Horizont, auf das Meer und zur Sonne, die langsam darin unterging, bis ihr die Tränen über die Wangen strömten.
Doch dann hörte Kat durch Trauer und Lärm und Verwirrung ein anderes Geräusch, nahm es auf, das über sie hinwegfloss wie klares, kühles Wasser über glatte Flusskiesel. Etwas davon erreichte sie, tröstete sie und brachte ihrem Unterbewusstsein die Antworten, ehe ihr Verstand sie begriff.
Es war ein Klirren, gefolgt von einem wiederholten Klick-Klick-Klick und einem vertrauten Ächzen, das sie nur ein Mal gehört hatte, nämlich als sie auf Hektors verwundetem Hengst durch das Stadttor von Troja geritten war.
Kat trat an die Balkonbrüstung, schaute nach unten und nach links. In der dicken Mauer war eine Nische, groß genug, dass ein Mann bequem darin stehen konnte, und ein einzelnes schmales Fenster ermöglichte einen Ausblick auf einen Teil des Schlachtfelds. Neben dem Mann befand sich eine riesige Kette, deren riesige Glieder fast halb so groß waren wie er selbst. Kat sah zu, wie sie, einem eisernen Wasserfall nicht unähnlich, in das Loch zu Füßen des Mannes hinabglitten. Vor sich hatte der Mann eine Reihe großer Eisenhebel, die momentan alle nach unten gerichtet waren.
»Schließt das Tor!«, befahl plötzlich ein Krieger, der auf einer Plattform vor der Nische stand, und senkte eine rote Fahne, die er bisher über dem Kopf gehalten hatte. Der Mann in der Nische reagierte sofort und drückte sämtliche Hebel nach oben. Die Kette rührte sich nicht mehr.
Kat beugte sich über die Brüstung, spähte hinunter auf das große Stadttor von Troja und sah, wie mehr als zwei Dutzend Krieger herbeieilten, um das Tor zu schließen, während Bogenschützen die griechische Armee in Schach hielten. Offenbar war das Tor geöffnet worden, damit sich alle trojanischen Krieger in die Stadt zurückziehen konnten, und es dauerte eine Weile, bis es sich mit seinem typischen Ächzen wieder geschlossen hatte und der Schutz der Stadt wieder gewährleistet war.
Kat sah erneut zu dem Mann in der Nische. Er und der Soldat mit der Flagge salutierten voreinander und nahmen dann eine entspannte Haltung
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