Mythica 06 - Goettin des Sieges
sie es nicht gewusst haben?
Odysseus ließ sich schwer auf den Stuhl in seinem spärlich eingerichteten Zelt sinken, starrte in seinen Weinkelch, den er selbst eingeschenkt hatte, und wünschte, er könnte die Antworten auf seine Fragen in dem blutroten Getränk lesen.
Auf einmal veränderte sich die Luft im Zelt, wurde wärmer, angenehmer, und dann materialisierte sich die Göttin. Es spielte keine Rolle, dass Odysseus sich wappnete, ehe er sie ansah. Seine Reaktion war immer die Gleiche, seit er sie als Knabe zum ersten Mal gesehen hatte. Die Sehnsucht nach ihr erhitzte sein Blut, wie sie schon die Luft erhitzt hatte.
»Mein Odysseus«, sagte Athene.
Mit offenen Armen kam sie auf ihn zu, und Odysseus ergriff ihre Hand. Dann sank er vor seiner Göttin auf die Knie, schloss die Augen, drückte die Lippen auf ihre Haut und atmete ihren Duft ein.
»Meine Göttin«, erwiderte er ihren Gruß. Dann öffnete er die Augen wieder, ließ ihre Hand los und stand auf. »Dein Besuch ehrt mich.« Seine Stimme klang so leer, wie sein Herz sich anfühlte.
Doch er hatte vergessen, dass seine Göttin ihn sehr, sehr gut kannte. Ihre grauen Augen wurden schmal, als sie ihn musterte.
»Du hast dich nach dem Kampf weder gewaschen noch umgezogen. Du siehst schrecklich aus. Was ist passiert?«
Odysseus schenkte sich Wein nach und nahm das als Entschuldigung, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich denke, du weißt, was heute geschehen ist, Göttin. Achilles glaubt, dass Patroklos tot ist. Er hat sich gänzlich dem Berserker überlassen. Die Prinzessin, die mir gesagt hat, dass ihr richtiger Name Katrina lautet, hat versucht, Achilles zu erreichen, und sie wurde von Hektor und seinen Trojanern befreit« – er betonte das Wort absichtlich sarkastisch –, »und dann hat Achilles Hektor getötet. Momentan ist er dabei, die Leiche des Prinzen zu schänden.«
Athene war ganz still geworden. »Du bist wütend auf mich.«
Jetzt begegnete er ihrem Blick. »Ich dachte, du liebst mich.«
Er sah, wie sie zusammenzuckte. »Ich liebe dich ja auch!«
»Wenn du mich lieben würdest, hättest du mich nicht angelogen.«
Athene antwortete nicht, aber Odysseus sah die Wahrheit in ihren Augen. Er hatte recht. Sie hatte es gewusst.
»Wussten alle Göttinnen Bescheid über den Streich, den ihr Achilles gespielt habt, oder nur Venus und du?«
»Es war kein Streich«, entgegnete Athene, und nun flammten auch ihre grauen Augen wütend auf. »Es hätte funktionieren müssen – der Krieg hätte zu Ende sein sollen.«
»Vielleicht hätte es funktioniert, wenn du mich davon in Kenntnis gesetzt hättest! Hätte ich davon gewusst, hätte ich ihn beschützen können!«, rief Odysseus, und auf einmal brachen sich alle seine unterdrückten Gefühle Bahn. »Bedeute ich dir so wenig, dass du mir kein Vertrauen schenkst?«
»So wenig!«, begann Athene, aber bei ihren Worten bebte der Boden, die Zeltwände begannen gefährlich zu zittern, und sie zügelte rasch ihr Temperament und atmete ein paarmal tief durch. Dann begann sie noch einmal von vorn. »Du bist der einzige Sterbliche, den ich jemals geliebt habe. Jeden Tag lebe ich in der Angst, dass ich irgendwann vor dem Schicksal kapitulieren und dich hergeben muss.«
»Aber bin ich für dich wirklich ein Mann – mit einem Herzen, einer Seele und einem Geist, der es wert ist, respektiert zu werden –, oder bin ich nur dein Spielzeug?«, fragte er bitter.
Ihr Gesicht rötete sich. »Wie kannst du so etwas sagen – nach all dem, was wir zusammen erlebt haben?«
»Ich sage es, weil alle Sterblichen die Launen der Götter kennen.«
»Ich bin nicht launisch. Ich nehme mir keine menschlichen Liebhaber aus einer Laune heraus. Ich dachte, das weißt du – ich dachte, du kennst mich gut genug.«
»Das dachte ich auch.« Er klang niedergeschlagen, und seine breiten Schultern sackten nach vorn. »Aber du hast mich nicht ins Vertrauen gezogen.«
Und dann schockierte Athene, Göttin des Krieges und der Weisheit, ihn zutiefst. Sie begegnete seinem Blick und sagte: »Ich habe einen Fehler gemacht. Verzeih mir. Ich hätte dich nicht anlügen sollen.«
»Athene, ich …« Er stockte, denn vor Freude fand er keine Worte.
Die grauäugige Göttin kam näher und ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken. »Mein Odysseus«, murmelte sie.
Odysseus nahm sie in die Arme und verzieh ihr. Und dann, als sie neben ihm lag, erzählte Athene ihm von Katrina, von Achilles, von Venus und Hera, und zum ersten Mal
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