Mythor - 023 - Befehle aus der Schattenzone
ein paar Schritte zu machen, um an den Kadaver zu gelangen. Reglos lag der eigentlich schöne große Vogel mit dem pechschwarzen Gefieder auf dem Boden. Als Mythor aber nach ihm griff, zerfiel der Körper sofort zu feinkörnigem schwarzem Staub. Der zweite Kadaver, der ganz in der Nähe aufgeschlagen war, zerfiel, bevor Mythor ihn überhaupt berühren konnte.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wäre er damit erbracht gewesen. Normale Kolkraben zerfielen nicht binnen weniger Augenblicke zu Staub und Asche. Hier war Magie im Spiel. Mythor war gewarnt; er hatte es mit Kräften zu tun, von denen er nur sehr wenig wirklich verstand. Er musste auf der Hut sein.
»Man müsste so ein Tier lebend zu fassen bekommen«, sagte Mythor halblaut im Selbstgespräch.
Wenn man einen lebenden Boten fing, konnte Thonensen vielleicht etwas damit anfangen. Mit dem Häufchen Staub, das vor Mythor lag, würde er mit Sicherheit unzufrieden sein. Was ließ sich daraus schon großartig herauslesen?
Wieder blickte Mythor in die Höhe.
Horus war dem nahen Rand des Waldes entgegengeflogen, verfolgt von den wütenden Gebärden des Erzmagiers. Dann aber sah Vassander nach seinen Boten, und zwangsläufig musste er auch Mythor erblicken.
Die Entfernung zwischen den beiden war zu groß, als dass man hätte Genaues sehen können. Vassander sah einen Augenblick lang auf Mythor herab, dann zog er den Kopf hastig zurück. Was immer er auch gesehen haben konnte, der Magier war nun gewarnt. Die Schlacht um die tatsächliche Macht in Burg Anbur war eröffnet.
Nyala war fest davon überzeugt, dass sie verloren hatte, verloren war. Unverrückbar fest saß die Schlangenhaut auf ihrem Körper, und sie ahnte, dass sich diese Haut erst bei ihrem Tode wieder entfernen lassen würde. Damit war sie den Mächten des Düsteren so sicher ausgeliefert, als hätte sie den Dämonenkuss empfangen, von dem sie auch durch das Tragen der zweiten Haut noch lange nicht verschont war, wie sie sich selbst immer wieder sagte. Sie war inzwischen ein wenig bequemer untergebracht worden, aber das machte das einsame Warten in der Düsternis der Dunkelstadt keineswegs angenehmer. Und noch immer wurde Nyala wie eine Gefangene behandelt.
Sie saß auf dem Boden und weinte erstickt, als sich hinter ihr die Tür öffnete. Nyala fuhr auf. Sie drehte sich um. »Vater!«
Es war tatsächlich ihr Vater, der auf der Schwelle stand. So glücklich war Nyala, ihren Vater wiederzusehen, dass sie die Caer-Wachen im Hintergrund völlig übersah. Sie eilte ihrem Vater entgegen, nahm ihn in die Arme.
Sofort fühlte sie unter ihren Fingern etwas Bekanntes. Sie fasste ihn schärfer ins Auge. Auch Herzog Krude war angetan mit einem schlangenhautähnlichen Bußgewand.
Nyala zögerte einen unmerklich kurzen Augenblick, dann nahm sie alle Kraft zusammen und richtete den Blick auf das Gesicht ihres Vaters.
Er machte einen müden, erschöpften Eindruck. Tief hatten sich die Entbehrungen der letzten Zeit in sein Gesicht gegraben, aber dieses Gesicht war ein normales Menschenantlitz, keine gläserne Maske.
Nyala wäre vor Freude fast zusammengesunken. »Vater!« rief sie immer wieder und umarmte den Herzog von Elvinon.
Herzog Krude rührte sich kaum.
»Lasst uns allein«, bat Nyala die Caer-Wachen. Wider Erwarten taten die Caer ihr den Gefallen und zogen sich zurück.
»Was haben sie mit dir gemacht, Vater?« fragte Nyala. Sie führte ihn sanft zu einer Sitzgelegenheit.
Herzog Krude schüttelte langsam den Kopf. »Frage nicht, Kind«, sagte er mit hohler Stimme. »Wie bist du an diesen Ort des Schreckens gekommen?«
Nyala erkannte aus der Frage, dass ihr Vater noch nicht völlig den dämonischen Einflüssen erlegen war. Er brachte es noch fertig, Gianton als das zu bezeichnen, was es war, als einen Ort des Schreckens und des Grauens. Nyala suchte mit den Augen den Körper ihres Vaters ab. Er schien völlig unverletzt zu sein, aber Nyala wusste, wie wenig das besagte. Sie selbst war auch nicht gemartert und gefoltert worden, und dennoch hatten die Caer ihr fast alle Kraft und Zuversicht rauben können.
Sie brachte ihren Mund an das Ohr ihres Vaters. »Lass uns fliehen«, sagte sie. »Wir haben eine gute Aussicht, ich spüre das.«
Sie wusste selbst nicht, woher sie diese Zuversicht nahm, die völlig unbegründet war. Sie wusste ja nicht einmal, wo in Gianton sie steckte, ob in den höchsten Türmen oder in einem tief unter der Erde gelegenen Verlies. Nichts ließ sich in dem fahlen Licht
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